Daraus ein abendfüllendes Ballett zu machen, ist nicht einfach. Einerseits. Doch andererseits bietet gerade dieses Stück für einen Choreographen die Möglichkeit, all das, was im Text ausgespart, angedeutet oder verschwiegen wird, sichtbar zu machen. Diese Leerstellen hat John Neumeier mit starken Bildern gefüllt, die der Sehnsucht, der Verzweiflung, dem Glück und den Ängsten seiner Figuren Ausdruck verleihen. Diese Seelenbilder sind in seiner „Glasmenagerie“ kunstvoll mit erzählerischen Sequenzen verzahnt, die sich recht genau an die Dramenvorlage von Williams halten. So überlagern sich ständig die Perspektiven und Erzählebenen, zumal im Ballett die Figur des Tennessee auftritt, die gewissermaßen in seinen Erinnerungen spazieren geht und sich dabei in der männlichen Hauptfigur, seinem jüngeren Ich, spiegelt. Damit realisiert Neumeier sehr geschickt die Kennzeichnung, die der Autor selbst für sein Stück gebrauchte: „A memory play“.
Zunächst erinnert sich Tennessee (dargestellt vom wie immer eleganten Edvin Revazov) an glückliche Kindheitstage: Auf einem Schiff spielt der junge Tom, liebevoll bewacht vom Kindermädchen Ozzie (Stacey Denham), ausgelassen mit seiner Schwester Laura (Andrej Urban und Emilia Koleva, beide von der Ballettschule Hamburg). Doch die Weite des Meeres weicht alsbald der Enge der familiären Wohnung in St. Louis, wie das ebenfalls von Neumeier geschaffene Bühnenbild suggeriert: Drei Wände schließen sich zu einem altmodisch tapezierten Kasten, deren offen bleibende vierte Wand dem Zuschauer ermöglicht, die kleine Familie am Küchentisch zu beobachten, wo in komplexen, virtuos getanzten Szenen das Beziehungsgeflecht zwischen Mutter, Sohn und Tochter entfaltet wird.
Amanda hält die Familie notdürftig über Wasser, indem sie Zeitungsabonnements verkauft. Im langen Mantel und hinter einer dunklen Brille versteckt, kommt sie ermattet nach Hause. Wie Patricia Friza mit eckigen, scharfen Gesten, die aussehen, als wolle sie sich den eigenen Mund zunähen, um ihren Kummer ganz in sich einzuschließen, die Verzweiflung Amandas sichtbar macht, ist tief bewegend. Nur die Erinnerung an bessere Tage bietet ein wenig Trost und lässt die Tristesse der Gegenwart vergessen. Dann tanzt Friza eine Frau im vollen Bewusstsein ihrer Schönheit, umringt von einem Dutzend „gentlemen callers“ in hellblauen Anzügen, die sie buchstäblich auf Händen tragen. Auch Tom, ihr Sohn, möchte der Enge entfliehen. Doch die vierte Wand ist für ihn nicht zu durchbrechen. Immer wieder stößt er sich an ihr, tastet sie auf der Suche nach einem Ausweg ab und findet ihn nie. Seine Arbeit in der Schuhfabrik quält ihn am meisten. Dort ist er Teil einer Maschinerie, einem von Neumeier erdachten menschlichen Fließband aus Arbeitern in blauen Anzügen, die unter grellem Neonlicht in immer gleichen Bewegungen ihr stumpfes Werk verrichtet. Seine Gegenwelt ist das Paradies-Tanzlokal und vor allem „Malvolio’s Magic Bar“, in der Tom genau wie im Stück bei Williams einen „rainbow colored scarf“ erhält. Der Magier Malvolio verstehe es, heißt es im Text, sich aus einem zugenagelten Sarg zu befreien, ohne dabei auch nur einen der Nägel zu entfernen. Was im Dramentext nur angedeutet ist, wird bei Neumeier klar, aber doch in einer allzu ausführlichen und darum am Ende ermüdenden Szene gezeigt: Es ist Toms Outing als Homosexueller, der sich zwar schon zuvor zu seinem Arbeitskollegen Jim, dem früheren „college hero“, hingezogen fühlte, aber erst jetzt diese für ihn neue Welt betritt, widerstrebend zunächst und doch unwiderstehlich von ihr angezogen.
Félix Paquet, 1994 in Kanada geboren, seit dieser Spielzeit Solist in Hamburg und ganz offensichtlich auf der Höhe seines Könnens, verkörpert die Leidenschaft und Zerrissenheit dieser verzweifelten Figur eindringlich. Christopher Evens ist als lebenslustiger und charmanter, leichtlebiger Jim der ideale Gegenpart, den nicht nur Tom, sondern auch dessen Schwester Laura in früheren Tagen an der Highschool umschwärmte. Alina Cojucaro stellt in dieser Rolle ihre makellose Technik ganz in den Dienst des Ausdrucks und verleiht ihrer Figur so viel Zartheit und Fragilität, dass man versteht, warum Neumeier sich durch sie zur Arbeit an seinem neuen Ballett recht eigentlich angeregt fühlte. Sie ist in dieser Rolle, was Williams im Dramentext vorsieht: „like a piece of translucent glass“. Für ihre Flucht in die Sphäre des Traums findet Neumeier einen bezwingenden Ausdruck. Die Glasfigur des Einhorns, Projektionsfläche für eine bessere, märchenhaft schimmernde, zerbrechliche Welt, verlebendigt sich in ihren Gedanken. David Rodriguez, weiß gekleidet und einen funkelnden Kristall auf der Stirn, entreißt das Mädchen, das eben noch verkrümmt vor seiner Sammlung mit Glasfigürchen saß, in phantastisch schönen Tänzen aller Erdenschwere, richtet sie auf, trägt sie davon, lässt sie schweben. Als dann endlich Jim zu Besuch kommt, gelingt es auch ihm, sie zum Tanz zu überreden, der zwar keine traumhafte Einhorn-Dimension erreicht, aber doch immerhin ein schönes Miteinander anzuzeigen scheint, das dann auch in einem Kuss gipfelt, den Jim sich erlaubt. Der Absturz ist groß, als dessen Verlobte wie ein Wirbelwind im pinken Sommerkleid hereinschneit, um ihren Jim abzuholen. Lauras Traum ist zu Ende. In einer unendlich zarten und anrührenden Geste schenkt sie Jim die Glasfigur des Einhorns, die er ungeschickt beim Tanz zerbrochen hat.
Etwas unklar bleibt bei Neumeier der Schluss, den er mit einem Zitat von Williams mit „Chaos: Heutzutage wird die Welt von Blitzen erhellt“ überschrieben hat, ohne dass dieser Bezug so recht eingelöst würde. Nicht alle der insgesamt zwanzig Szenen überzeugen also vollauf. Doch John Neumeier ist mit der „Glasmenagerie“ ein weiteres faszinierendes Handlungsballett gelungen, das in den zentralen Szenen an Expressivität und Einfallsreichtum nicht hinter seinen großen Werken zurücksteht. Wiederum frappiert die sensible Auswahl der Musik, die Simon Hewett und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit Intensität und Klangschönheit spielen. Gerade Philip Glass‘ „The hours“ passt in ihrer Zartheit, aber auch in ihrer beständigen Repetition einzelner Motive hervorragend zu diesem Stück, wobei Musik von Charles Ives oder von Ned Rorem von Neumeier geschickt als Kontrast zu den ruhigen Klängen von Glass genutzt wird. Vor allem aber gilt für das ganze großartige Ballett-Ensemble, was Tom über seinen Freund Jim sagt: Neumeiers Tänzer scheinen mit ihrem Können beständig „die Gesetzte der Schwerkraft“ zu besiegen. Wie das Einhorn Laura, so entführen sie die Zuschauer augenblicksweise in eine andere Welt und schaffen Bilder, die in Erinnerung bleiben und fortleben. Das ist viel. Und sehr schön.