Im Zentrum steht bei ihm die Geschichte Maries, eines Mädchens, das sich heimlich in Günther, den Freund ihres Bruders, verliebt und das gerne so sein möchte wie ihre Schwester Louise, die eine Ballerina ist. Zu ihrem zwölften Geburtstag bekommt sie von Drosselmeier, dem Ballettmeister der bewunderten Schwester, ein Paar Spitzenschuhe geschenkt. Aber ihre Versuche, so elegant wie sie zu tanzen, glücken erst im Reich des Traumes, in das Drosselmeier sie entführt und in dem sie mehr und mehr nicht nur zu einer echten Ballerina, sondern auch zur Frau heranreift. Doch am Ende verwandelt sich das traumhafte Barocktheater, in dem sie erst Zuschauerin, dann Tänzerin ist, wieder ins biedermeierliche Wohnzimmer ihrer Kindheit. Jürgen Rose hat für diese beiden so unterschiedlichen Welten je ganz eigene Ausstattungen und Kostüme entworfen, und es liegt – neben der großartigen Leistung des Ensembles – auch an dieser phantasievollen und kostbaren Ausstattung, dass auch die 161. Aufführung dieser Produktion in München ein so großer Erfolg ist.
Zunächst wird der Zuschauer in die bürgerliche Welt des späten 19. Jahrhunderts geführt, denn im überladenen Salon der Familie Stahlbaum feiert die ganze Familie Maries Geburtstag, wobei besonders der Tanz der vier Kadetten für sich einnimmt. Dennoch, dieses erste Bild wirkte noch ein wenig steif, die Pointen gewollt und nicht leichthin genug. Auch das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Robertas Servenikas fand erst allmählich zu gewohnter Höhe und symphonischem Schwung, der sich aber je länger je mehr einstellte. Es ist einer der großen Momente dieser Inszenierung, wenn sich im 2. Bild die Alltagswelt Maries auflöst und einem Probenraum Platz macht, der durch eine seitlich positionierte Leiter, ein paar Requisten und eine Ballettstange angedeutet wird.
Später entsteht dann vor den Augen des Zuschauers im leeren Raum eine perspektivisch gestaffelte, reich bemalte Barockbühne. Drosselmeier, den Alexey Popov mit souveräner Technik als etwas verschrobenen, in seiner Erscheinung an Marius Petipa erinnernden Ballettmeister darstellt, ist es, der vor der staunenden Marie die unwirklich-schöne Welt des Balletts eröffnet. Die gar nicht wenigen Divertissements, die er ihr (und dem Publikum) zeigt, werden vom Bayerischen Staatsballett so gut getanzt, dass sie immer wieder aufs neue erfreuen und nie ermüdend wirken. Da ist zum Beispiel die mit hoher Konzentration von Henry Grey und Kristina Lind gegebene Einlage „La fille du Pharao“ oder „Esmeralda und die Narren“, das mit seinem übermütigen Schwung begeistert. Doch besonders Emilio Pavan und Prisca Zeisel, die beide im ersten Teil als Günther und Louise zu sehen sind und jetzt als ideales Ballett-Paar wiederkehren, beeindrucken mit geschmeidiger Eleganz und wundervoll fließend getanzten pas de deux.
Und Nancy Osbaldeston verkörpert mit ihrer zierlichen Figur eine zarte, glaubhaft mädchenhafte Marie, die mit Neugierde, kindlicher Scheu, aber auch mit Übermut eine Welt erkundet, zu der sie gehören möchte. Neumeier erzählt ihre Geschichte so poetisch wie augenzwinkernd, so anrührend wie komisch. Nach dem Reigen der tänzerischen Kleinodien schließt er gekonnt den Rahmen. Der Theatersaal verwandelt sich wieder ins bürgerliche Wohnzimmer, in dessen Mitte Marie liegt und aus ihrem Tanz-Traum erwacht. Nächstes Jahr wird sie wieder träumen.