Wie oft, so erzählt John Neumeier auch die Handlung der „Kameliendame“ nicht gradlinig chronologisch, sondern in Rückblenden und Überlagerungen. Marguerite, die umschwärmte Kurtisane der Pariser Hautevolee, ist tot; ihre Besitztümer werden verkauft. Armand, ihr früherer Geliebter, erfährt davon, trifft seinen Vater dort in ihren Räumen und berichtet ihm schließlich von seiner Liebe zu ihr.
Bestimmt gehört dieses Ballett zu den großen Kreationen des letzten Jahrhunderts. Seit der Uraufführung in Stuttgart 1978 wird die auf einem Roman von Alexandre Dumas basierende Geschichte von Marguerite und Armand von vielen wichtigen Kompanien der Welt getanzt – immer mit großem Erfolg. Das liegt an Jürgen Roses elegant-schlichtem Bühnenbild, das ganz aufs Wesentliche reduziert ist und so den Tänzern in detailreichen, ungemein kunstvoll gearbeiteten Kostümen Raum zur Entfaltung bietet, vor allem aber an Neumeiers differenzierter, feinsinniger Charakterzeichnung.
Drei große Pas de deux stehen im Mittelpunkt, und es gelang den Stuttgarter Solisten Marti Fernández Paixà als Armand und Rocio Aleman als Kameliendame mit technischer Bravour und vor allem mit glaubhaftem darstellerischem Ausdruck, diesen drei zentralen Begegnungen ein je ganz eigenes Gepräge zu verleihen. Zunächst weist Marguerite die Liebe Armands durch superioren Spott und kokettes Gehabe leichthin ab. Doch die völlig ungeschützte Hingabe des jungen Mannes, der sich ihr einfach zu Füßen wirft in unbedingter Ernsthaftigkeit, durchbricht ihre eitle Seelenpanzerung. Paixà und Aleman zeigen die beiden Protagonisten als ganz jugendliche Figuren, stürmisch und mit heftigen Gefühlsregungen. Später, wenn beide ein Paar geworden sind und Marguerite die Ansprüche eines Herzogs abweist, indem sie ihm ein Collier vor die Füße wirft, das offenbar als Lohn für Liebesdienste bezahlt worden war, gestalten die beiden in weitgeschwungenen, raumgreifenden Bögen und butterweichen Hebungen einen Moment vollkommenen Glücks. Sie mit gelöstem Haar und offenem Herzen, er ganz ihr zugewandt. Doch die ländliche Idylle dauert nur kurz: Armands Vater fordert die Kameliendame auf, seinem Sohn aus gesellschaftlichen Gründen zu entsagen. Aleman zeigt sich in der Konfrontation mit Monsieur Duval (Matteo Crockard-Villa) zunächst trotzig. Doch gegen die Macht der eigenen Vergangenheit kommt sie nicht an, was Neumeier in einer atemberaubenden Szene visualisiert. Schon die Auswahl der Musik ist bestechend: Vollkommen zwingend ist der Einsatz des berühmten „Regentropfen-Préludes“ (op. 28, Nr. 15), gerade so, als habe Chopin es just für diese Szene komponiert. Wenn die Basslinie des Prélude unter dem hämmernden Ostinato aufsteigt, erscheint die von ihren Verehrern umschwärmte, mit Brillanten behängte Manon Lescaut als Spiegelfigur Marguerites und führt sie zurück in ihr altes Leben.
Marguerite fügt sich, wenn auch unter Schmerzen, verlässt Armand, den sie zweifellos innig liebt. Und kehrt später noch einmal zu ihm zurück, besucht ihn für eine einzige Nacht. Leidenschaft, in die sich Zorn und Aggression mischen, bestimmt diese Begegnung, und auch dafür finden die beiden großartigen Solisten dank ihrer stupenden Ausdauer den richtigen Ausdruck. Rocio Aleman und Marti Fernández Paixà stehen an der Spitze eines Ensembles, das sich an diesem Abend von seiner besten Seite zeigt: Auch die kleineren Partien (Veronika Verterich als Manon, Clemens Fröhlich als Des Grieux oder Satchel Tanner, Christian Pforr und Gabriel Figueredo als Verehrer Manons) sind überzeugend besetzt, und das Corps de ballet gestaltet die großangelegten Ball-Szenen mit ziemlicher Präzision. Ein großer Ballett-Abend. Ein Geschenk fürs Publikum. Und für John Neumeier, der an diesem Abend seinen 84. Geburtstag feierte.