Kein „höchst vollkommenes Trauerspiel“
Bellinis Norma zum Auftakt der Festtage der Berliner Staatsoper Unter den Linden
Berlin, 14. April 2025, Bernhard Metz

Mit Vincenzo Bellinis Norma gelingt der Staatsoper Unter den Linden ein guter Auftakt ihrer „Festtage“; die große Premierensensation bleibt freilich aus. Das war absehbar, stand diese schon für 2020 geplante und covidbedingt stark verschleppte Co-Produktion mit dem Theater an der Wien zwangsläufig im Schatten der Wiener Schwesterinszenierung. Diese wurde gefeiert und – minimal früher angesetzt als die neue Norma der Wiener Staatsoper – als Siegerin im dortigen Lokalderby wahrgenommen; für Berlin hingegen gab es wenig zu gewinnen. Wien war nicht nur früher angesetzt (Premiere 16. Februar), sondern hatte mit Asmik Grigorian in der Titelrolle (sogar im Rollendebut) einen Star-Vorteil, der nicht ein- oder gar überholt werden konnte – die Besetzung gänzlich anders: Staatskapelle Berlin und Staatsopernchor (Leitung Dani Juris) mit neuen Vokalisten. Gleich blieben Dirigat (Francesco Lanzillotta), Regie (Vasily Barkhatov), Bühne (Zinovy Margolin), Kostüme (Olga Shaishmelashvili), Licht (Alexander Sivaev).

Barkhatov, der sich in Deutschland mehrfach einen Namen machte (etwa an der Deutschen Oper Berlin mit Verdis Simón Boccanegra oder zuletzt mit Der Zauberin/Čarodejka von Čajkovskij in Frankfurt) verlegt Norma ins lange 19. Jahrhundert. Statt heiliger Wälder, gallischer Druidenmythologie und römischer Besatzungsmacht sehen wir ins Innere einer hohen Industriehalle. In einer Keramikmanufaktur modellieren während der ausinszenierten Ouvertüre Künstlerinnen Engelsfiguren – im Hintergrund Brennöfen. Das erinnert an romantisch-musivisch-ideale Genredarstellungen von Kunstakademien, mit dem befremdlichen Unterschied, dass die blendendweißen Keramiken seriell gefertigt werden und solcherart massiert kaum für das Wahre, Gute oder Schöne stehen können; Kitschverdacht drängt sich auf. Soldaten fallen gewaltsam ein, zerstören, schänden, plündern, Elefanten im Porzellanladen. So verstörend dieser Gewaltakt auch wirkt, ist unklar, was passiert: „römischer“ Barbareneinfall? „Barbarische“ Gallier unter sich? Sacco di Roma?

Zum ersten Akt wird „Dieci anni dopo“ eingeblendet, zehn Jahre später ist die Halle geblieben, die Produkte haben sich geändert: Hergestellt werden in unterschiedlichen Größen ausschließlich Büsten eines Mannes mit Schirmmütze, Diktaturen-Ikonographien von Hitler oder Stalin hin zu Trujillo oder Pinochet vereinigend – die freie Gesellschaft ist zur Militärdiktatur verkommen. Damit enden allerdings alle Anspielungen auf die römische Besatzungsgeschichte Galliens, die im Text relevant sind, in dieser Inszenierung aber unberücksichtigt bleiben.

Römer und Gallier werden bei Barkhatov kaum unterschieden, alle tragen Uniformen oder Overalls, obschon eine Klassen-Hierarchie zwischen Arbeitenden und Wachpersonal besteht: Oberdruide Orovesi (sehr gut Riccardo Fassi, der in der Huguet-Neuinszenierung von Le Nozze an der Staatsoper als überragender Figaro glänzte) und seine Tochter Norma (Rachel Willis-Sørensen; mitunter problematisch, als Vater-/Tochter-Besetzung unwahrscheinlich) als Vorarbeiterin stehen mit Adalgisa (sehr gut Elmina Hasan) und Clotilde (ebenfalls überzeugend Maria Kokareva) sowie dem Staatsopern-Chor als Arbeiterschaft auf der einen, Prokonsul Pollione (Dmitry Korchak, an der Staatsoper aus La Bohème als Rodolfo bekannt; im ersten Akt anfangs schwach, im zweiten durchgehend gut) im Direktorenanzug und Flavio (Junho Hwang) mit wenigen Statisten auf der Seite der frühkapitalistischen Ausbeuter.

Als Grundkonflikt (weg von nationalen oder religiösen Gegensätzen hin zu einer innergesellschaftlichen Problematik) ist das beabsichtigt, hält Barkhatov es doch „für wesentlich bedrückender und beängstigender, wenn Bedrohung und Überwachung nicht von externen Feinden ausgehen, sondern von den eigenen Nachbarn, wie es nach revolutionären Ereignissen der Fall ist. Es gibt in unserer Inszenierung daher nicht zwei Gruppen, weder Druiden und Gallier noch Römer, sondern wir zeigen die Gesellschaft eines Landes, das gerade einen fundamentalen politischen Umsturz erlebt hat. Man wird dabei zwangsläufig Parallelen zu bestimmten Revolutionen und Diktaturen in Europa bzw. der Welt sehen.“

Somit wird keine Kapitalismus-Kritik aufgerufen, auch keine am Kolonialismus, sondern ein Konflikt zwischen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts und einer demokratisch-matriarchal ausgerichteten Urgemeinschaft im Unterschied zur oligarchisch-diktatorisch orientierten Regierungsform nach Revolution bzw. Militärputsch. Nur bleibt das Libretto das alte und die Figurenkonstellation – Norma als Priesterin muss sich im Konflikt zu ihrem Keuschheitsgelübde befinden, wenn sie mit Pollione heimlich zusammenlebt und Kinder hat, zudem ergibt sich unter Besatzung ein gesellschaftlich-politisches Kollaborationsproblem, wofür die Spannung mit ihrem Vater stehen mag; als Arbeiterin hingegen nicht. Es verbleibt Liebeskonkurrenz wegen Adalgisa, die sich in Wohlbehagen auflöst – diese will von Pollione nichts mehr wissen, als sie vom Doppelleben erfährt. Als Konflikt alles wenig plausibel.

Gottheiten gibt es nicht mehr, Pollione besingt zwar seine „dei migliori in Roma“, doch befinden wir uns in einer entgötterten und postreligiösen Welt, wo nicht Religion durch Nation abgelöst wurde, sondern innerhalb einer Kulturnation die Frage der Regierungsform entscheidend wurde. Das ist konsequent, heißen doch die „Festtage“ der Staatsoper nicht Osterfestspiele, führt aber zu Verlusten, da Norma eine „Tragedia lirica“ ist. Wo in Felice Romanis Libretto von druidischen Mysterien oder kultischen Ritualen die Rede ist, von Mistelzweigen, Druiden-Felsen, Irminsul-Eichen und entsprechenden Kriegs- oder Mondgottheiten (die Casta Diva-Arie wird von Willis-Sørensen sehr ordentlich gesungen, aber es fehlt ihr inszenierungsbedingt jeglicher Zauber; als Revolutions- oder Gegenrevolutionshymne singender Arbeiterinnen taugt sie wenig), resultiert große Leere.

Ebenso wie Librettist Romani die Vorlage abänderte, indem Norma nicht medeagleich ihre Kinder abschlachtet und dem untreuen Iason-Pollione die Rechnung präsentiert wie in Soumets Norma, ou L’infanticide, verfügt Barkhatov, dass Norma nicht stirbt. Sie will sich im Brennofen selbst kremieren (warum, bleibt bei dieser politisierten Norma unklar), lässt sich dann aber von Pollione retten; beiden umarmen einander, die konträren Welten demokratisch-matriarchaler Urgemeinschaft vs. gewaltsam-patriarchaler Diktatur versöhnen sich (sonst gibt es in Norma eigentlich nur die Option, dass sie akzeptiert, dass er mit ihr sterben will – Flammentod heroischen Liebespaars – oder den gemeinsamen Opfertod unversöhnlich ausschlägt – Medea allein im Flammenwagen). Barkhatovs Norma ist nirgends tragisch.

Bellinis im 100-seitigen Programmheft zitierter Zeitgenosse Schopenhauer, der „die ächt tragische Wirkung der Katastrophe […] wie in der Oper Norma“ vor allem als vorchristliche Tragöde schätzte, hätte das nicht akzeptiert: „Ueberhaupt ist dieses Stück, – ganz abgesehn von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits von der Diktion, welche nur die eines Operntextes seyn darf, – und allein seinen Motiven und seiner innern Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwickelung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung der Helden, welche dann auch auf den Zuschauer übergeht: ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen, noch Christliche Gesinnungen darin vorkommen. –“

Vielleicht muss das so sein. Vielleicht ist unsere Zeit nicht nur postreligiös und zunehmend undemokratisch, sondern untragisch und unfähig, den tragischen Grundkonflikt (als mythisch-kultisch-religiösen) auch nur so zu inszenieren, wie dies noch vor 200 Jahren verstehbar war. Dass auch romantische Liebesideale heute kaum mehr gelebt werden, ist evident. Damit wird Norma entwertet, es fehlt alles Faszinierende, Fremde, Verstörende. Politpopaganda statt romantischer Unbedingtheit, grundiert von einem verschwommen-vergangenen Ideal mutterrechtlicher Gesellschaft. Bellinis wohl berühmteste Belcanto-Oper wird von ihrem totalen Kunstanspruch befreit, wobei nicht einmal mehr das romantische Liebesmodell erhalten bleibt. Wie es weitergehen wird zwischen Norma, Pollione und auch Adalgisa, bleibt offen; vielleicht nimmt er beide mit nach Rom, zusammen mit den Kindern und Betreuerin Clotilde, alle arrangieren sich miteinander, moderne Patchworkfamilie … kein romantisches Liebespaar, zu schweigen von archaischen Opferkulten und tragischer Wirkung. Wenn die Arbeiterschaft angesichts des gefesselten Direktors Pollione von Norma ein Menschenopfer fordert, wäre anderes denkbar.

Was nicht heißt, dass diese Norma musikalisch nicht auch Freude bereitet: Oroveso wird von Fassi grandios gesungen, auch wenn seine Charakterisierung als Aufrührer nicht zur Figur passt; Hasan weiß Adalgisa große Momente zu verleihen, besonders im Finale des ersten Akts („Il mira […] Qual ira!“); besonders das Terzett zwischen ihr, Norma und dem hinzukommenden Pollione ist gut ausinszeniert und von hohem Tempo, mit einer guten Figurenführung, die des späten Verdi würdig wäre. Stupende Komik, wo die Bühne die beengte Wohnung Normas zeigt, wo alle zusammenkommen, Kammeroper vom Feinsten. Zwar gerät Lanzilotta das meiste sonst langsam und schleppend, er wird für sein Dirigat nicht nur bejubelt, dennoch ist dies am Ende eine gelungene Norma. Bellinis Belcanto erschafft aufgrund der transzendentalen Qualität seiner Melodien Erhabenheit und auch Neues, Anderes; die Magie dieser Musik lässt sich von keiner noch so schwierigen Inszenierung regulieren.