Verstehen kann man es nicht, aber man muss es als Tatsache akzeptieren, dass der Münchner Herkulessaal an diesem Abend nur zur Hälfte besetzt war, und zwar nicht bedingt durch Corona-Maßnahmen, sondern ganz einfach nicht ausverkauft, nicht einmal annähernd! Was ist denn mit dem sonst so treuen BR-Publikum geschehen? Kann es tatsächlich sein, dass die erste Konzerthälfte mit Bartók und Martinů zwei Komponisten präsentierte, die dem Geschmack der potenziellen Zuschauermenge so sehr entgegenstanden, dass sie trotz einer vermeintlichen „Entschädigung“ durch Mahler im zweiten Teil nicht kommen wollte? Oder lag es daran, dass der Dirigent Klaus Mäkelä, auch wenn er beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der vorletzten Saison sensationell eingesprungen war, keinen Vertrauensvorsprung zugestanden bekam?
Seit diesem in höchstem Maße anregenden Konzertabend dürfte zumindest dem erlesenen Besucherkreis bewusst sein, dass man mit dem heute erst 25-jährigen Finnen zu rechnen hat, wenn man über wichtige Orchesterleiter der Gegenwart und Zukunft spricht. Nicht nur ist er bereits seit 2020 Chefdirigent bei den Philharmonikern in Oslo, er steht ab der kommenden Spielzeit auch an der Spitze des Orchestre de Paris und wird als erster Dirigent seit 40 Jahren von dem legendären Plattenlabel Decca exklusiv unter Vertrag genommen.
Dass Mäkelä diesen beachtlichen Erfolg verdient hat, beweist auch dieses Konzert in München: Im strengen Anzug auftretend, erweckt er zunächst den Eindruck eines braven Schuljungen, doch der Schein trügt. Sein Zugang zur Musik fußt zwar hörbar auf einer analytischen Herangehensweise, die jedoch emotional durchdrungen ist. Seine präzise Schlagtechnik wirkt wie ein Puls, der das Orchester antreibt, wobei der Finne sich immer wieder deutlich einzelnen Stimmgruppen oder Solisten zuwendet, mit ihnen atmet und lebt. Mäkelä animiert, gibt Impulse, lässt aber auch wunderbar frei spielen, genießt den Klang, tänzelt, dirigiert mal tief nach unten gebeugt, mal mit gen Himmel schießender Hand, ist immer präsent und spornt das Orchester zu energischen Akzenten an. Es ist ein Ereignis, zu erleben, wie hier ein ganzer Körper von Musik erfasst wird, aber niemals die Kontrolle verliert. Intellekt und Seele, Analyse und Erleben verschmelzen hier zu einer perfekten Synthese.
Davon profitieren die drei Komponisten, die dieses sehr klug zusammengestellte Programm in sich vereint: In allen Werken gehen Einflüsse von Volksmelodien und Kunstmusik eine fruchtbare Verbindung ein; das gesamte Konzert hindurch hat man den Eindruck, dass naturhafte und abstrahierende Kräfte gleichermaßen am Werk sind, einmal kontrastierend gegenübergestellt, dann wieder verschmelzend. Béla Bartóks Rhapsodie Nr. 2 und Bohuslav Martinůs Suite concertante (ein verkapptes Violinkonzert), jeweils für Violine und Orchester, verlangen dem Solisten viel ab. Frank Peter Zimmermann, der Alleskönner unter den deutschen Geigern, meistert souverän all die komplizierten Lagenwechsel, Doppelgriffe und wilden Läufe. Und bei aller technischen Brillanz gestaltet er zusätzlich jeden noch so kurz aufblitzenden Melodiefetzen derart formvollendet, als wolle er uns kostbare Edelsteine präsentieren. Die dämonische Attacke wie auch das lyrische Schwelgen stehen Zimmermann zu Gebote, und er entfesselt gemeinsam mit Dirigent und Orchester ein Fest der Farben und Rhythmen, der Motorik und des Tanzes. Die BR-Symphoniker agieren präzise und reaktionsfreudig, der Klang hat immer Kontur und Körper, egal ob in der scharfen Akzentuierung oder im melodiösen Strömen. Und so erlebt man gebannt einen virtuosen Klangwirbel, bei dem hin und wieder Dämonen hervorzuspringen scheinen.
Auch in Mahlers Vierter Symphonie kann man als Zuhörer bisweilen den Teufel um die Ecke grinsen sehen, und es beschleicht einen ein gewisses Unbehagen, wenn gleichsam zwei Welten aufeinanderzuprallen scheinen: Hinter einer fast kindlich anmutenden Heiterkeit lugen Fratzen hervor, Unschuld kippt in Grausamkeit um und eine an der Oberfläche friedvoll anmutende Welt wird als dämonisch entlarvt, ohne dass eine der beiden Seiten letztlich überwiegt. Mäkelä blickt als Mensch des 21. Jahrhunderts auf Mahler und vermeidet es, ihn zu mystifizieren. Mit aller Konsequenz und Plastizität nehmen in den ersten beiden Sätzen die Kontraste zwischen der lieblichen und der fratzenhaften Klangwelt Gestalt an. Das Orchester überzeugt sowohl im Tutti als auch in den vielen exzellenten Instrumentalsoli, beispielsweise Violine (erneut der hervorragende Konzertmeister Radoslaw Szulc), Horn (Carsten Carey Duffin) oder Querflöte (Philippe Boucly). Besonders hervorzuheben sind dieses Mal außerdem Stephan Schilli, der seine Oboe so sagenhaft singen lassen kann, und der von der Bayerischen Staatsoper ausgeliehene Maxime Pidoux an den Pauken, dessen Spiel maßgeblich für rhythmische Prägnanz sorgt. Leider funktioniert das Zusammenspiel zwischen den Stimmgruppen nicht immer reibungslos, vor allem im rhythmisch heiklen Zweiten Satz. Da aber sonst alles so überzeugend in Klang gegossen wird, geschenkt! Der Dritte Satz, der mit „Ruhevoll“ überschrieben ist, gelingt dann wieder bestens. Mäkelä und das Orchester scheinen sich gegenseitig auf Händen zu tragen, sodass alle Steigerungen sich logisch aufbauen und der emotionale Gehalt berührend zur Entfaltung kommt. Die Vertonung eines Lieds aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn, nämlich Das himmlische Leben, bildet den letzten Satz dieser Symphonie. Die darin beschriebenen Freuden des Lebens im Himmel werden immer wieder als Schein entlarvt, wenn deutlich wird, dass sie auf Grausamkeit aufbauen; für das festliche Essen müssen auch Tiere wie beispielsweise „[e]in liebliches Lämmlein“ geschlachtet werden. Anna Lucia Richter lässt Phrasen von erlesener Schönheit durch den Saal gleiten, betont somit die Künstlichkeit der himmlischen Scheinwelt und entzaubert diese immer wieder konkret durch gezielte vokale Effekte. Mäkelä begleitet sie dabei kongenial und animiert das Symphonieorchester des BR gekonnt zu schroffen Stimmungswechseln. Erst in der Vierten Strophe des Lieds deutet sich dann doch noch ein Abglanz von Seligkeit an, wenn Gesang und Orchesterklang sanft entschweben. Nach dem im Nichts verklingenden letzten Ton verharrt das Publikum lange in absoluter Stille, bis sich dann begeisterter Applaus erhebt, um diese wahrhaft erfüllte musikalische Darbietung zu feiern.
Und es bleibt bei einer wichtigen Feststellung: Was für ein Dirigent! Der Bayerische Rundfunk täte gut daran, Klaus Mäkelä baldmöglichst wieder zu verpflichten, denn wer eine Mahler-Symphonie derart sinngebend interpretieren und noch dazu mit Bartók und Martinů auf ganzer Linie überzeugen kann, analytisch und emotional zugleich, der hat ein großes Talent und verdient einen vollen Saal.