Dass die Festspiele in Salzburg in diesem Jahr konzertant mit „Capriccio“ von Richard Strauss eröffnet wurden, ist ein merkwürdiger, durchaus interessanter Einfall. Und das nicht nur, weil in dieser späten Oper die theoretischen Fragen der Gattung diskutiert werden, sondern auch, weil das „Konversationsstück für Musik“, das im Oktober 1942 (die deutsche Armee kam zu dieser Zeit an der Ostfront zum Stehen) im Münchner Nationaltheater uraufgeführt wurde, die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik aufwirft wie kaum ein anderes.
„Ich will meine Bühne mit Menschen bevölkern! Mit Menschen, die uns gleichen, die unsere Sprache sprechen! Ihre Leiden sollen uns rühren und ihre Freuden uns tief bewegen!“ La Roche, der Direktor des Theaters, weiß genau, was er haben will und was nicht. Er erwartet ein Theater der Zukunft, harrt „geduldig des fruchtbaren Neuen“ und hofft auf „die genialischen Werke unserer Zeit“. Werke will er, die „zum Herzen des Volkes sprechen“ und seine „Seele widerspiegeln“. Ein kraftvolles Theater müsste das sein, eines, indem das Publikum sich selbst und seine Nöte gespiegelt findet: mea res agitur. – Merkwürdig, dass die Schöpfer dieser Figur diesem Rat nicht gefolgt sind! Mit der Lebenswirklichkeit der Menschen von 1942 hat gerade diese Oper denkbar wenig zu tun.
Worum geht es? Die Handlung spielt um 1775 herum auf einem Schloss in der Nähe von Paris, zu der Zeit also, als Gluck sein Reformwerk der Oper begann. Flamand, ein Musiker (Sebastian Kohlhepp singt ihn textverständlich und mit tenoralem Schmelz), und Olivier, ein Dichter (Konstantin Krimmel mit geschmeidigem, aber etwas blassem Bariton), streiten nicht nur um die Vorherrschaft von Text oder Musik in der Oper, sondern buhlen auch um die Gunst der schönen Gräfin. Sie kann sich nicht zwischen den beiden entscheiden. Ihr Bruder (Bo Skovhus) ist selbst in eine Amoure mit der Schauspielerin Clairon (Ève-Maud Hubeaux) verstrickt, La Roche, der Theaterdirektor (ihm fehlt bei Mika Kares das Komödiantisch-Buffoneske) darf seine Vision einer gelungenen Bühnenkunst darlegen – und nach ziemlich ausführlichen (und nicht selten recht banalen) Expektorationen zum Verhältnis von Wort und Ton kann sich die Gräfin noch immer nicht zwischen den beiden Verehrern entscheiden – und will es auch gar nicht, denn in „eins verbunden sind Worte und Töne – zu einem Neuen verbunden (…). Eine Kunst durch die andere erlöst.“ Elsa Dreisig ist mit ihrem recht kurzwelligen, gleichsam zwitschernden Vibrato zunächst zu wenig elegant und nobel in dieser Partie, findet aber für den großen Schlussmonolog einen wunderbar silbrig leuchtenden, schwebenden Klang. Und Christian Thielemann ist mit den überragenden Wiener Philharmonikern für die überaus feinsinnige Musik von Richard Strauss, der hier einen durchhörbaren, sublimen Spätstil fand, eine ideale Besetzung. Es dominiert ein leichter Parlando-Ton, aber immer wieder blühen die Melodien auch in diesem Werk schwelgerisch auf. Ein orchestrales Fest, wie man es sich schöner zu einer Eröffnungs-Premiere kaum erwarten darf. Und doch bleibt ein etwas schaler Eindruck zurück. Denn gerade bei einer konzertanten Aufführung erwartete man sich in Salzburg eine noch etwas stimmigere Sänger-Riege. Zudem bleibt man als Besucher mit den ja durchaus interessanten Fragen, die das Stück stellt, ohne szenische Deutung ein wenig ratlos zurück.
Hätte man sich in diesem Fall also durchaus eine Inszenierung des Werkes gewünscht, so hätte man am Abend darauf bei der zweiten Schauspiel-Premiere dieses Festspielsommers sehr gerne darauf verzichtet. Thomas Luz vermengt in seiner Fassung der „Sternstunden der Menschheit“ (einer Koproduktion mit dem Münchner Residenz Theater) die Biographie Stefan Zweigs mit Ausschnitten aus einigen der historischen Miniaturen, die bis heute zu den populärsten Texten des Autors zählen. Sechs Schauspieler (drei Damen und drei Herren, die allesamt ohne jede Kontur völlig austauschbar bleiben) bilden in einer Art von Archiv aus Styropor-Versatzstücken (Pferdeköpfe, Säulen, Kapitelle – Bühne: Duri Bischoff) verschiedene Skulpturen und werfen sie wieder über den Haufen. Dazu sprechen sie in wechselnden Besetzungen einzelne Sätze aus Zweigs „Sternstunden“, meist unterlegt von ebenso bedeutungsschwangerer wie enervierender Musik, die ebenfalls Herr Luz angerichtet hat. Hauptsächlich aber werden Passagen aus Zweigs Briefen gelesen, die seinen Weg ins Exil und schließlich in den Selbstmord im brasilianischen Exil nachzeichnen. Am Ende vermengt Luz die Biographie Ciceros mit jener Zweigs, ist doch beider Tod unlösbar mit den politischen Hintergründen verwoben. Eine solche Engführung hätte tatsächlich spannend sein können – wenn denn die Lebensgeschichten Zweigs und Ciceros irgend Kontur gewonnen hätten. Aber dieser anderthalbstündige Theaterabend, den man so kaum nennen mag, bleibt zäh, läppisch und furchtbar langweilig.
Einen denkbar großen Kontrast dazu bildet die ersten der insgesamt fünf Matineen der Wiener Philharmoniker am darauffolgenden Morgen: In aller Stille und Ernsthaftigkeit geht es hier um letzte Dinge. Herbert Blomstedt, inzwischen 97 Jahre alt, dirigiert Johannes Brahms‘ „Schicksalslied“ (op. 54) und Mendelssohns „Lobgesang“ (op. 52) mit einer bezwingenden Selbstverständlichkeit. Nichts wirkt in diesem Konzert gewollt, alles ergibt sich organisch. Der noble Orchesterklang bleibt dabei geschmeidig fließend und immer transparent für solistische Passagen, wobei vor allem die Holzbläser leuchten. Weich und klanglich schön gerundet (aber nicht unbedingt textverständlich) setzt der Wiener Singverein mit Hölderlins Worten ein: „Ihr wandelt droben im Licht“. Durchaus weiß Blomstedt dramatische Akzente zu setzen, wenn von den Menschen die Rede ist, die „wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen / Jahrlang ins Ungewisse“ hinabgestürzt werden. Vor allem aber bewegt in Salzburg das schwebende Adagio-Finale in reinem C-Dur. Hier wird klar, dass Brahms den schroffen Gegensatz zwischen leidlosen Göttern und leidgeprüften Menschen am Ende aufgehoben wissen wollte. Eine noch explizitere Heilsgewissheit verströmt Mendelssohns „Lobgesang“ nach Texten der Heiligen Schrift. Tilman Lichti weiß mit seinem geschmeidigen Tenor um den Trost des Wortes, Christina Landshamer und Elsa Benoit harmonieren stimmlich wunderbar, wenn sie im Duett davon erzählen, wie der Herr sich ihrer annimmt, unumstößlich ertönt a capella die Aufforderung des Chores: „Nun danket alle Gott“ und unwiderstehlich die finale Aufforderung: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Im Stehen dankt nach einem Moment ergriffener Stille das Publikum für einen großen Konzerteindruck – und sicher auch für die Lebensleistung Herbert Blomstedts, der sympathisch und bescheiden für den Beifall dankt, ehe er sich am Arm des Konzertmeisters hinter die Bühne führen lässt.