Tom Kummers „Von schlechten Eltern“ in den Vidmarhallen Bern
Zur Premiere von Tom Kummers „Von schlechten Eltern“ in den Vidmarhallen
Bern, 6. November 2021, Bernhard Metz

November ist Totengedenken: Allerheiligen, Kirchenjahrsende, Dunkelheit, Nebel, Kälte, Herbst. Da passt, dass am 6. November die Bühnen Bern in den Vidmarhallen Tom Kummers zweiten Roman Von schlechten Eltern uraufführten. Wie zuvor in Nina & Tom wird darin der Verlust der Ehefrau und Mutter zweier Söhne – die 2014 an Krebs verstorbene Nina – verhandelt. Autofiktion mit biographischen Parallelen. Zugleich ist Von schlechten Eltern Heimat- und Rückkehr-, Schweiz- und Bernroman, in dem Gegensätze Amerika–Europa–Afrika, Bern vs. Los Angeles, Klimawandel, Migration, Familienbeziehungen, Vatersein und Älterwerden diskutiert werden. Mit Fahrgästen einer Mercedes-Limousine, die Tom als Privatchauffeur über Schweizer Straßen steuert. In Dialogen oder nur im Kopf: „Am liebsten fahre ich Pakete und Koffer.“

Wie in Kummers erstem Roman geht es um Nina, die Beziehung zu ihr, die Erinnerung an sie. Alles spielt diesmal nicht in Los Angeles und endet mit Ninas Tod, sondern in der Schweiz und mit Zusammenkunft der Restfamilie. Wieder ein Buch durchsetzt mit Rückblenden an gemeinsame Zeiten, wieder Barcelona, Berlin, Los Angeles. Literarisches Denkmal großer Liebe. Der Wunsch, mit der Toten zu sprechen: „Glauben Sie nicht, dass wir göttliche Wesen sind, mit einer unsterblichen Seele und einem ewigen Geist? Nein, das glaube ich nicht. Ich schon. Wir können in ein vergangenes Leben zurückkehren und dort mit unseren Toten sprechen.“

Totengespräche im dicken Mercedes, als Dialogpartner internationale Fahrgäste. Der Fahrer heißt Tom Kummer, zwei Söhne, der volljährige Frank ist in Los Angeles zurückgeblieben, der zwölfjährige Vincent (Vince) nach Bern mitgezügelt, Toms Geburtsstadt. Nach Jahrzehnten zurück in der Modellwelt, der „Legostadt Bern“. Nachts on the road: „Meine neue Heimat sind die Schweizer Straßen.“ Dort verdient Tom seinen Lebensunterhalt, fährt für einen elitären Shuttle-Service zwischen schweizerischen Flughäfen und Bundesstadt.

Lässt sich das auf die Bühne bringen, fürs Sprechtheater umarbeiten? Mit so großartigen Schauspielern wie Kilian Land, Jonathan Loosli und Jan Maak eine gemähte Wiese – sollte man meinen. Tilmann Köhler missglückt seine erste Berner Regiearbeit trotzdem. Unverständlicherweise, weil Kummer ein begnadeter Dialogschreiber ist, kulminierend in seinen am New Journalism ausgerichteten gefälschten Hollywood-Star-Interviews, die besser waren als alles, was diese fingierten Interviewpartner im echten Leben jemals äußerten. Zur Buchausgabe der Fake-Interviews schrieb Ulf Poschardt, der wegen Kummer seinen SZ-Magazin-Chefredakteursposten räumen musste: „Der Dialog steht am Anfang der Philosophie. […] Für Tom Kummer stand das nie zur Diskussion. Er will mit den Menschen, die er trifft, sprechen, kein Interview führen. […] So entstehen Dialoge und – wichtiger noch – gute Texte.“ Gute Texte gleich gutes Theater?

Kummers Text sollte sich als Vorlage eigentlich perfekt eignen. Es gibt darin genügend satirische Überzeichnungen der Schweiz, um ausreichend Lacher zu garantieren, das Berner Publikum schmerzfrei abzuholen. Aber diese Inszenierung, die sich einreiht in rezente Literaturbearbeitungen für die Theaterbühne, ist leider misslungen. Die literarischen Qualitäten des Romans, unter den fünf besten für den Schweizer Buchpreis nominiert, zum Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt eingeladen, bleiben auf der Strecke. Das liegt weniger an der Textauswahl als an der verflachenden Einrichtung. Im Programmheft werden wir instruiert, Von schlechten Eltern sei keine „Geschichte eines Mannes, der um seine Frau trauert“, sondern „ein wichtiger Text zur spezifisch Schweizerischen Männlichkeitskrise“. Es gehe „um die verunsicherte Identität des Schweizer Mannes. […] Von schlechten Papis ähh Eltern buchstabiert dieses Thema auf evidente Weise durch.“ Entsprechend wälzen sich Land, Loosli und Maak mit nacktem Oberkörper am Boden. Aufeinander. Markieren einsame Wölfe oder „Schweizer Mannen“. Brüllen herum, schlagen sich auf die Brust.

Dabei kommen Schweizermänner in Von schlechten Eltern kaum vor. Sie sind absent, früh verstorben, wie des Protagonisten Vater. Vaterlose Gesellschaft. Der einzige im Roman namentlich erwähnte ohne Migrationshintergrund, Expat-Erfahrung und außerschweizerischen Geburtsort dürfte Herr Jungi sein, Jugendamtsmitarbeiter: „Höflicher junger Berner Beamte.“ Fast alle sind Geflüchtete, oftmals traumatisiert, wie der trauernde Tom: „Die Schweiz ist ein Sehnsuchtsland. […] Die Schweiz ist das Paradies auf Erden. Vielleicht das reichste Land der Welt. Bestimmt das sicherste.“ Die Fahrgäste des VIP-Chauffeurs stammen aus Kongo, Libyen, Senegal, Somalia, auch London, New York. Nie kutschiert Tom Schweizer durch seine Heimat, meint lakonisch nur: „Meine Frau ist tot. Ich komme in die Schweiz und fahre nachts eine Limousine durchs Land.“

Die interessanteren Fahrten und tiefsinnigeren Gespräche bestreitet Tom ohnehin mit Frauen: der Londoner Pharmaunternehmerin Olga; der geflüchteten Somalierin Amina, die er in Italien aufnimmt und über die Grenze in Sicherheit bringt; dem Bergmeitschi Dominique (Nicky) aus dem Berner Oberland, die ihm Chef Jean-Luc zugesellt, weil sich alle um ihn sorgen: „Trauer ist schlecht fürs Geschäft und die Zukunft der Welt.“ Alle weggestrichen. Schlechte Bühnenadaptionen? Solche Inszenierungen verdeutlichen vielleicht „die verunsicherte Identität des Schweizer“ Theaters. Von schlechten Eltern verdeutlicht etwas anderes.

Dass Tom tagsüber kaum chauffiert, ist vorteilig für die Bühne (Karoly Risz). Kann leer bleiben, muss nichts dekoriert werden, schwarz wie die Nacht. Ansonsten ähnelt sie einer Tiefgarage. Gefahren wird nicht auf Autobahnen oder Bergpässen, sondern niedertourig im Kreis. Wie Kilian es tut, das Quarré mehrmals ausschreitend. Meist aber wird herumstehend deklamiert, im Leerlauf, Standgas. Mal alleine, mal als Grüppchen. Hinten Leuchtröhren, die anfangs die Zeit angeben.

Mal mehr, mal weniger intensiver Bodennebel strömt länger als die Hälfte der 1‘45h andauernden Produktion. Manchmal passt das zum Text, meist nicht. Wenn Licht (Hanspeter Liechti) von oben kommt, erinnert es an Wolken. Berührende Eindrücke gelingen, wo Vater und Sohn radeln und wie durch den Himmel fliegend herumrobben; die Bühne scheint in eine dritte Dimension umgekippt. Basslastige Musik (Jakob Suske) kommt hinzu; Ambient, Trance, tiefe Hintergrundgeräusche. Einmal spielt Loosli Trompete, bläst eine Alphorn-Melodie. Dazu streicht Land eine Snaredrum, Maak schlägt und zupft die Saiten einer E-Gitarre; Klangsalat, der schlechte Laune auslöst.

Die Darsteller (Kostüme Susanne Uhl) mimen VIP-Fahrer im „alten Helmut-Lang-Anzug“, dazu „die schwarze Krawatte, das weiße Hemd“, bis sie nach gut 20 Minuten halbausgezogen in Anzughosen herumturnen. Alle drei sind immer alles, Erzählinstanz, Tom, seine Söhne und Dialogpartner. Angenehme Sprechstimmen, prädestiniert für Wasserglaslesungen. Stattdessen werden wie in Nachkriegshörspielen im Schizomodus (tripolare Störung?) Sätze zwanghaft wiederholt. Was einer sagt, repetieren die anderen. Passend zu Kummers als „Borderline-Journalismus“ tituliertem Schreiben; zugleich nervig, langweilend. Tom fährt oft übermüdet, braucht Tabletten und Tropfen, um wachzubleiben; auch das Publikum hat Probleme, nicht einzunicken.

Was nicht heißt, dass die Darsteller nicht spielen könnten. Im Gegenteil; wenn sie dürfen, wird es richtig gut: Maak mit sich selbst die Szene mit New Yorker-Journalistin Eisenberg („Und was soll es bei uns zu recherchieren geben? Sie lächelt. Mir wird schon was einfallen.“); Loosli alleine im Jugendamt (intensiv, wenn er weint); Kilian im Mono-Dialog mit Heiler Dr. Azikiwe. Allerdings flacken die nicht spielenden Darsteller derweil im Trockeneisnebel. Schlafend? Mit Akkuschrauber und Hampelmannbewegungen wird veralbert, wovon sich der nigerianische Alternativmediziner Azikiwe die Rettung der Welt verspricht. Oder zumindest Toms Erlösung. Man sollte diese Aspekte des Romans, Errettung und Heilung durch Kulturtechniken und Weisheitslehren aus Afrika, afrikanische Totenkulte und Trauerkulturen, ernster nehmen.

Symptomatisch dafür, wie alles stagniert, obwohl es leicht fliegen könnte, ist die Schaukelszene, Höhepunkt des Stücks. Vince und Tom haben Frank abgeholt, fahren im „600er“ zum Totensee. Dort soll Ninas Asche ein weiteres Mal verstreut werden. Alle schaukeln, Loosli springt ab. Anstatt die Erzählerstimme zu streichen oder auf nichtsprechende Spieler zu übertragen, plappert jeder nach seinem Einsatz „sagte“ mit dem Namen seiner Rolle. Das zerstört den Zauber. Aus einem anspielungsreichen und facettenreichen Roman wird in dieser verlangweilten Adaption zu wenig. Köhler wird Kummers Text nicht gerecht.

Warum entgleisen aktuell so viele Theater-Roman-Adaptionen? Ist das postdramatisches Theater oder schlicht Unverständnis? Kummer hätte diese Bearbeitung besser selbst geschrieben; seinen Roman besser zusammengestrichen hätte er allemal.

So steht der trotz seiner sechzig Jahre jugendlich wirkende Autor beim Schlussapplaus gequält zwischen Land und Loosli und lässt sich beklatschen. Immerhin ist das Publikum höflich, applaudiert bereitwillig. Sobald die draußen aufgestapelten Romane signiert und gelesen sein werden, wird das Nachdenken einsetzen. Dass es in Von schlechten Eltern kaum um spezifisch schweizerische Männlichkeitskrisen geht. Warum Kategorien wie Demut, Respekt oder Werktreue bei Romanadaptionen auf deutschsprachigen Bühnen derzeit so unmodisch sind.

Tom Kummer verfasste zum Konzert-Theater-Bern-Saisonprogramm 2018/19 den Beitrag „Magie des Theaters oder wie ich das Theater durch seine Skandale lieben lernte“: „Wir brauchen 1. das ausufernde Schaffen im Theater 2. die Verstörung 3. die reine Provokation 4. Bühnen, die bis zur totalen Überforderung mit Symbolen überwuchern 5. Erklärungsversuche, die alle versagen 6. Erklärungsversuche, die Ablehnung und Wut erwecken 7. Skandale 8. Grenzüberschreitung 9. die totale Amalgamierung von Systemen und ihren Praktiken. Dies sind keine unrealistischen Ansprüche! Glauben Sie mir!“ Bereitwilligst. Mehr Magie, mehr Gonzo-Theater. Diesmal jedoch nicht, nicht in Bern; Von schlechten Eltern

erfüllte nichts davon. Vielleicht ein andermal.