„könnt’ ich die starken Stücke schweissen“
Wagners Siegfried an den Bühnen Bern
Bern, 21. April 2024, Bernhard Metz

Nachdem Wagners Ring vor drei Jahren erstmalig in Bern gewagt wurde (Rheingold-Premiere 12. Dezember 2021, Walküre-Premiere 15. Januar 2023), sind wir bei Siegfried angelangt (Premiere 14. April 2024); wie bisher in Ewelina Marciniaks Regie unter Nicholas Carters musikalischer Leitung. Während Carter mit dem Berner Symphonieorchester grandiose Wagner-Interpretationen aneinanderreiht, tritt Marciniak auf der Stelle bzw. kippt rückwärts um: Was so energiegeladen aus einem Guss gefertigt einsetzte, mit schlank-sportlichem Rheingold und einer zwar weniger überzeugenden, aber noch immer flotten Walküre, ist ins Stocken geraten – als wäre die düstere Götterdämmerung bereits erreicht. Damit wirkt Siegfried, nachdem es zuerst den Anschein hat, das alte Tempo wäre zurück, ab der zweiten Szene wie eine müde Selbstzitation der vorangegangenen Teile.

Alles beginnt verheißungsvoll. Mimes „großer Schmiedeherd, aus Felsstücken natürlich geformt“ wird in Bern zur altmodischen Wohnküche (Bühne Mirek Kaczmarek) um einen schäbigen Elektroherd; in auffälligem Gegensatz zur Hundingschen Designerküche in Walküre. Nun wird plausibler, warum Nothung aussieht wie ein Küchenmesser. Trist, wie Mime haust und arbeitet – ohne lächerlich zu wirken, ohne satirisch überzeichnet zu sein. Mime als alleinerziehender, sozial abgehängter verelendeter Handwerker, der sich in Konflikt mit seinem aufstrebenden Ziehsohn befindet, der hinaus ins Leben strebt.

Treffend, auch hinsichtlich Kostüm (Julia Kornacka) und Licht (Bernhard Bieri). Dem rauchenden, trinkenden, Fastfood-konsumierenden vergrauten Heimarbeiter in Strickjacke, Unterhemd und Cordhose haben sich „Zwangvolle Plage! Müh’ ohne Zweck!“ tief eingegraben. Das verdankt sich auch Thomas Ebensteins gelungener Mime-Darstellung, der mit eingezogenen Schultern und verzerrtem Gesicht Verelendung und Kleinhaltung eindrucksvoll verkörpert. Im Gegensatz dazu der virile, lebenslustige Siegfried (Jonathan Stoughton) mit langen blonden Haaren, in Parka, Jeans und weißen Sneakers. Ganz junger Wilder, beansprucht, Kind besserer Eltern zu sein: „ganz anders als du dünkt’ ich mir da“; Klassenkampf bestimmt Marciniaks Berner Ring.

Diese erste Szene gerät auch musikalisch grandios, wobei sich Ebenstein stimmlich zu steigern weiß. Er setzt verengt und verhalten ein, versteht aber lauter und voluminöser zu singen, größer und selbstbewusster, je siegesgewisser er sich im Verlauf der Handlung hinsichtlich eigener Absichten und Pläne wird. Stoughton zeigt, wozu er im zweiten und besonders im letzten Akt im Duett mit Brünnhilde (Stéphanie Müther) gesanglich in der Lage ist. Ein wirklich guter Siegfried, nicht schmetternder Heldentenor, oft zart, leicht, hell, fast intellektuell, etwas grüblerisch, zugleich in seinen Ausbrüchen gegen Mime oder Fafner kraftvoll und bestimmt intonierend.

Bei vielen Personen klappt’s innerhalb der Ring-Kontinuität nicht. Zwar ist Wotan als Wanderer verkleidet, aber nach nochmaligem Besetzungswechsel nicht wiederzuerkennen. Aus dem Angehörigen der Oberschicht mit Anzug, Bart und Hornbrille ist jemand geworden, der keine Haare mehr hat, rote Wollmütze statt „großen Hut mit breiter runder Krämpe, die über das fehlende eine Auge tief hereinhängt“ trägt, wie ein Sextourist auf Asienreise, mit Trainingshose und Holzketten behängtem T-Shirt; man ist erleichtert, diesen alten weißen Mann nach seiner Erda-Begegnung nicht mehr sehen zu müssen. Was nicht hören zu müssen heißt; dass Claudio Otelli seinen Wanderer schlecht singe, wird niemand behaupten.

Ebensowenig Freya Apffelstaedt ihre Erda oder Patricia Westley das Waldvöglein. Sie alle kämpfen gegen absurd schlechte Kostüme und Regieanweisungen. Wenn Erda unbezogene Daunendecken um sich hüllt (wie sie bei Hunding vor dem Kamin herumlagen) oder Waldvogel aussieht wie ein gerupftes Brathühnchen, führen solche Kostüme weg von Musik, sprachlichem und gesamtkünstlerischem Anspruch, die Wagner mit seinem Bühnenfestspiel verband.

Im Gegenteil dazu ist die Entscheidung, Fafner, der wieder mit dem großartigen Bass Matheus França besetzt ist, als menschenartige Person auf die Bühne zu bringen und nicht nur aus dem Off singen zu lassen oder hinter einem Drachenaufbau zu verstecken, stimmig. Fafner hat sich verwandelt, im Rahmen seiner Möglichkeiten, vom armen Schläger zum neureichen Parvenü, der mit Leopardenhose, Goldhemd und Sonnenbrille daherkommt wie Betreiber von Bordellen oder Nachtlokalen, träge und brutal: „Ich lieg’ und besitze“. Alberich, nun von Zoltán Nagy gesungen, überzeugt stimmlich ebenfalls, wenn er auch aussieht wie der Wanderer in Grün (grüne Wollmütze, grünes T-Shirt, grüne Cargohose).

Bleibt als wichtigste Frage, wie es um die Abschluss-Szene bestellt ist, das Zusamentreffen Siegfrieds mit Brünnhilde. Musikalisch gibt es nichts zu beanstanden, für ein Haus dieser Größe und Wagner-Tradition ist alles von einer Qualität, wie sie staunen macht. Zugleich ist das der (bisherige) Tiefpunkt des Berner Rings. Wagner fordert: „Felsenhöhe (ganz die gleiche Scene wie im dritten Akte der ‚Walküre‘) […]. Die Anordnung der Scene ist durchaus dieselbe wie am Schlusse der ‚Walküre‘: im Vordergrunde, unter der breitästigen Tanne, liegt Brünnhilde, in vollständiger glänzender Panzerrüstung, mit dem Helm auf dem Haupte, den langen Schild über sich gedeckt, in tiefem Schlaf.)“ Hätte Siegfried Walküre in Bern besucht, er könnte nichts wiedererkennen! Unvermittelt hängen überdimensionierte anthrazitfarbene Geschenkbandrollen herab, sonst ist alles leer, alles anders.

Auch trägt Brünnhilde kein schwarzes Kleid mehr, sondern schwarzen Anzug zu weißem Hemd; so war bisher nur Hunding gekleidet. Nun sogar Siegfried. Das wäre als White Collar-Dresscode (gerüstete Krieger der Arbeitswelt) diskutierenswert, hinzu aber kommen schwarze Cowboy-Hüte, die alles ins Zorrohafte verzerren; nicht zuletzt, weil auch Grane, mit entsprechendem Schnurbart versehen, solche Rodeo-Assoziationen weckt. Zwar wird die einzige echte Liebesszene des Rings, musikalisch von Stoughton und Müther innig und glaubhaft gesungen, durch die Regie aber zerstört, worauf es Marciniak auch anlegt: „Es gibt an der Behauptung der vorherbestimmten Liebe dieses Paares etwas Melodramatisches. Diesen melodramatischen Aspekt der Szene wollte ich auf jeden Fall dekonstruieren.“ Siegfried, dem bisher alles Lärmend-Heldische fehlte, wird unversehens zum Macho, packt Brünnhilde übergriffig-gewalttätig, Grane schreitet ein. Der sympathische Held wird unversehens zum problematischen Repräsentanten toxischer Männlichkeit, zum triebhaften Sexualstrafttäter. Bitter, auch weil beide Stimmen gut zueinander passen, die Regie das Paar aber auseinandertreibt.

So haben wir ein Berner Symphonie-Orchester, angeleitet von Carter, dem zuzuhören ein Genuss ist, da es die Dramatik der Siegfried-Musik ebenso räumlich aufzufächern weiß wie stille und intime Momente auszugestalten und dabei die Sänger perfekt unterstützt, anstatt gegen sie anzuspielen. In den besten Momenten werden kammermusikalische Nuancen mit den Instrumenten eines großen Orchesters erzeugt. Eine gute Besetzung aller Rollen, die in manchen Fällen (Ebenstein als Mime, Stoughton als Siegfried) exzellent ist und sich nirgends zu verstecken braucht; und Regie, Bühnenbild und Kostüme, die diesem positiven Gesamteindruck ab Akt I,1 fortwährend entgegenarbeiten.

So weiß man nicht recht, wie viel Vorfreude in Götterdämmerung sinnvoll zu investieren ist; hat sich schon alles dem Ende zugeneigt, ist die Luft raus, kommt da noch etwas? Musikalisch wird es nichts zu kritisieren geben, Carter mit seinem Berner Symphonieorchester erweckt den Eindruck, als hätte er sich (sein erstes Wagner-Dirigat überhaupt fand 2021 mit Rheingold

statt!) richtig eingespielt und als werde alles nur immer noch besser. Trotzdem stehen die Zeichen auf Götterdämmerung: Wie kürzlich mitgeteilt, wird Carter Bern nach der nächsten Saison verlassen, seine Nachfolgerin als Chefdirigentin soll ab 2025 Alevtina Ioffe sein. Damit mischt sich in Vorfreude großes Unbehagen.