„Le nozze di Figaro“ an der Berliner Staatsoper
Zur „Publikumspremiere“ von Mozarts „Le nozze di Figaro“ an der Berliner Staatsoper
Berlin, 18. September 2021, Bernhard Metz

Noch immer sind es seltsame Zeiten, doch nähern sie sich einem Ende: Wenn Premieren, die zu online- bzw. Radio-Premieren (1. April 2021) umdeklariert werden mussten, schließlich vor Publikum gezeigt werden können, passiert etwas; draußen auf dem Bebel-Platz als „Staatsoper für alle“, drinnen im Saal vor Publikum, zusammen als „Publikumspremiere“. Dass noch am (Publikums-)Premierentag für Mozarts Le nozze di Figaro an der Berliner Staatsoper Karten zu bekommen sind, zeigt zwar, dass back to normal noch nicht erreicht wurde, dennoch ist das Haus nach 18 Monaten erstmals wieder rammelvoll, die Stimmung grandios, für die Variante „für alle“ mit Liveübertragung wurden 4000 Gratis-Karten vergeben.

Es mag Geschmackssache sein, wen man als wichtigsten Opern-Komponisten überhaupt ansieht, Mozart, Verdi oder Wagner (oder doch jemand anderen); unbestreitbar ist jedoch, dass neben der Zauberflöte seine drei Zusammenarbeiten mit Lorenzo da Ponte den Gipfel von Mozarts Opernschaffen ausmachen, auch dass sie die meistgespielten Opern weltweit darstellen. Als Trilogie werden sie normalerweise nicht verstanden, noch seltener so bezeichnet oder zusammen aufgeführt. Mit Le nozze di Figaro setzt an der Staatsoper eine „Mozart-Da-Ponte-Trilogie“ ein, die mit Così fan tutte (Premiere 3. Oktober 2021) fortgesetzt und im kommenden Jahr mit Don Giovanni (Premiere 2. April 2022) abgeschlossen werden soll. Die Reihenfolge ist anders gesetzt als die Entstehungszeiten der Opern oder der Aufführungsplan, Figaro wird als „Mozart-Da-Ponte-Trilogie II“ angekündigt. Die Staatsoper zeigt somit in neuer Inszenierung von Vincent Huguet in einer Saison Figaro, Don Giovanni und Così; diese werden die Standardinszenierungen der kommenden Jahre abgeben. Alle drei in der Inszenierung eines Regisseurs in einer Saison an einem Haus erleben zu können, ist ungewöhnlich, jedoch Teil der Inszenierungsabsichten und der ungewöhnlichen Kopplung als zusammenhängender Trilogie. Freilich wird dieses Konzept mit wechselnden Darstellern realisiert und nicht durchgehend mit einem Ensemble.

Wirklich als Trilogie konzipiert und als Trilogie espagnole bekannt sind hingegen die Figaro-Komödien von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais. Sie umfassen Le Barbier de Séville ou La Précaution inutile (1774), La folle journée ou Le Mariage de Figaro (1778; Uraufführung 1784) sowie L’Autre Tartuffe ou La Mère coupable (1792). Dass es seit 1826 und bis heute die politische Zeitschrift Le Figaro gibt, ist der Bedeutung geschuldet, die speziell dem zweiten Stück im vorrevolutionären Frankreich zukam, durch Kritik am absolutistischen Herrschaftssystem von großer politischer Brisanz. In Frankreich verboten, auch in Österreich, durfte La folle journée dort zumindest in Übersetzung publiziert werden; Mozart wurde darauf aufmerksam und empfahl Johann Rautenstrauchs Der närrische Tag oder Die Hochzeit des Figaro (1785) Da Ponte zur Bearbeitung. La folle journée lieferte damit die Vorlage für Le nozze di Figaro ossia La folle giornata, während Mozart andere Beaumarchais-Werke nie vertonte. Als Bearbeitung des ersten Figaro-Dramas ist Rossinis Barbiere di Siviglia mit Libretto von Cesare Sterbini weltberühmt, während das dritte und schwächste Stück, das Beaumarchais nur schrieb, um seine Revolutionsdramen zur Trilogie zu erweitern, erst im 20. Jahrhundert Interesse unter Opernkomponisten fand, u.a. beim Schweizer Darius Milhaud mit La mère coupable (1966, Libretto Madeleine Milhaud) oder in den postmodernen Ghosts of Versailles (1991) des New Yorkers John Corigliano mit Libretto von William M. Hoffman; wobei der Stoff schon früher bearbeitet wurde, etwa in Massenets Chérubin von 1905.

Chéreau-Schüler Huguet erklärt zum Zentrum seiner Arbeit die sexuelle Befreiung und ihre Folgen von 1968 bis heute. Als grundlegende Referenzautoren seiner „Trilogie der Befreiung“ bemüht er die beiden Michels, die wie kaum jemand sonst in Frankreich für Beschreibungen der historischen wie zeitgenössischen condition sexuelle stehen mögen, Foucault und Houellebecq (Frauen, seien es nur Simone de Beauvoir oder gar Virginie Despentes, haben dazu wohl nichts zu sagen). Così sei das in die Ehe mündende Aufbruchs- und Initiationsstück, Figaro repräsentiere die Ehekrise und midlife crisis, Don Giovanni die Darstellung von Alter und Tod des gealterten Verführers, immer mit männlichem Hauptcharakter: „Im Herzen dieser dreiteiligen Erzählung steht ein junger Mann, Guglielmo, der zum Ende von ‚Così fan tutte‘ verheiratet ist, in ‚Le nozze di Figaro‘ der Graf Almaviva wird und anschließend den ehelichen Wohnsitz verlässt, um sich unter neuer Identität als Don Giovanni aufzumachen. An seiner Seite steht die junge Fiordiligi, die Gräfin und die maskierte Donna Elvira, die ihren (Ex-)Mann bis zum Ende verfolgt. Figaro hingegen nimmt den Namen Leporellos an und folgt seinem ‚Herren‘, angetrieben von der Idee eines neuen Lebens […].“

Neben solchen Figuren-Gleichsetzungen schlägt Huguet vor, Foucaults Histoire de la sexualité den Opern trilogisch zuzuordnen; das ist neben der gewaltsamen Kopplung der kontingenten Kollaborationen von Mozart und Da Ponte (die nichts Zyklisches aufweisen und zufällig nur eine oder auch mehr als drei Opern hätte umfassen können) auch auf Foucault bezogen haarsträubend. Es stimmt nicht, wie Huguet schreibt, es sei „in der Tat verblüffend festzustellen“, dass Foucault „aus seinem Werk ‚Sexualität und Wahrheit‘ (1976–1984) ebenfalls ein Triptychon formte“, da so etwas bei diesem Fragment gar nicht geschah. Foucault hatte ursprünglich eine fünf- bis sechsteilige Studie geplant, bevor er 1984 mit 57 Jahren an HIV starb. Sein Sexualitäts-Projekt blieb unvollendet; 2018 kam postum als vierter Teil Les Aveux de la chair heraus. Man mag sich darauf einlassen, „die Überschriften“ von Foucaults Spätwerk „genauso gut als Untertitel für die Werke der Trilogie“ zu lesen, will man einen forcierten Willen zur Trilogie ausleben; doch hat das weder mit Foucault noch mit Mozart oder Da Ponte irgendetwas zu tun.

Huguets Neu-Untertitelung wäre für Così fan tutte ossia La scuola degli amanti demnach La Volonté de savoir (Der Wille zum Wissen), für Le nozze di Figaro ossia La folle giornata somit L’Usage des plaisirs (Der Gebrauch der Lüste) sowie für Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni dann Le Souci de soi (Die Sorge um sich). Damit wäre das Ende des Wüstlings im Don Giovanni (der Schluss mit dem gemeinsam gesungenen „Questo è il fin di chi fa mal: e de’ perfidi la morte alla vita è sempre ugual.“) zu beziehen auf alles, was in den drei Opern zuvor geschieht; der Böse und Untreue wird bestraft, seine Opfer (Donna Elvira etwa plant ins Kloster einzutreten) bekommen Gerechtigkeit. Eine solche Finalisierung ist begründbar, verweist schon der „vecchio filosofo“ Don Alfonso in Così aufs finem lauda und das böse Ende.

Irritierend ist Huguets fortwährendes Beschwören sexueller Befreiung und Revolution in dieser „Trilogie der Befreiung“. Man erhält nicht den Eindruck, er habe Foucault gut gelesen, der anders als Reich, Marcuse oder weitere Verfechter einer sexuellen Revolution gegen die Annahme einer Befreiung zur oder durch Sexualität anschrieb. Foucaults Schriften zur Sexualität sind im Rahmen seiner Studien zur Gouvermentalität entstanden, kreisen um die Frage, wie Macht sich nicht nur aufs Sagen und Sprechen und alles Diskursive, sondern direkt auf die Körper auswirkt, welche Techniken und Verfahren wirksam waren und sind, um Menschen über ihre Körper zu disziplinieren und Bevölkerungen zu beherrschen und zu steuern. Solche „Biopolitiken“ wären für eine Inszenierung, die unter Lockdown-Bedingungen entstehen musste und deswegen zuerst nicht vor Publikum aufgeführt werden konnte, ein lohnendes Thema, jenseits der Körpertechniken des Sexuellen. Aber solche über individuelle Verhaltensweisen hinausgehenden Konstellationen eines politisch-sozialen Gefüges nach 68 mit Arbeit, Freizeit, Familie scheinen Huguet wenig zu interessieren, obwohl er sein Narrativ als „Eine Familiensaga?“ tituliert. Entsprechend wird auch Houellebecq, der zu Verfall und Zusammenhalt solcher Strukturen (es geht bei ihm immer um soziale, familiäre und generationelle Auflösungen und Bindungen) viel zu sagen hat, nur einmal namentlich erwähnt. Zum Zynismus, der einer Bezeichnung wie sexuelle Befreiung eignet, wäre Houellebecq, in dessen Texten die katastrophalen individuellen Folgen der Entwicklung nach 68 zentral sind, allerdings ein interessanter Stichwortgeber gewesen.

Der zweite Teil von Huguets Trilogie ist trotz des freizügig tönenden „Untertitels“ Der Gebrauch der Lüste in der Darstellung recht keusch und züchtig (bei Foucault geht es dort ohnehin vorrangig um vorchristliche antike Homosexualität und Paidophilie und weniger um Ehe und Hausstand/Ökonomik). Trotz eines unablässigen Zwangs zum Anfassen und Berühren, der allen auf der Bühne eigen ist und sie recht touchy erscheinen lässt. Dieses Anfassen mit Eifersucht (es gibt kaum eine Person, die nicht mindestens eine andere begehrt und deswegen wieder in eifersüchtige Verstrickungen mit weiteren gerät) steht ein wenig quer zu den polyamourösen Idealen harmonischer Promiskuität, die Huguet zu vertreten scheint. Zumindest wird nichts davon sichtbar ausagiert. Man kann beruhigt sein, dass die Pornographisierung, mit denen die ein oder andere Mozart-Inszenierung in den letzten Jahren eher verstörte als positiv aufzufallen, vermieden wird. Die Inszenierung ist absolut jugendfrei und familienfreundlich. Auch werden Textteile, die ins forcierte Trilogie-Narrativ nicht passen, nicht einfach weggestrichen. Der uneingelöste theoretische Anspruch könnte also auch ignoriert werden.

Dabei sind solche Annahmen grundsätzlich reizvoll: Nehmen wir an, der Conte di Almaviva habe seine Vorgeschichte in Così und ist einer der beiden jungen Männer Ferrando oder Guglielmo, die einiges von dem zu lernen haben, was ihnen Don Alfonso (auch ein gealterter Wüstling) voraus hat; dann wird die Contessa di Almaviva nicht zu Rosina aus dem Umfeld des Barbiere von Sevilla (folgt man der Beaumarchais-Trilogie, aus der sich Da Ponte bedient), sondern eben zu Fiordiligi oder Dorabella; entsprechend gut sind die Besetzungen, weil sowohl für Figaro als auch Così im kommenden Monat wieder mit Gyula Orendt und Federica Lombardi geplant wird. Dreht man das ganze weiter und wird Guglielmo/Almaviva schließlich zu Don Giovanni (Fiordiligi/Rosina zu Elvira sowie Figaro zu Leporello), geht vieles aber nicht mehr gut auf; enttäuschend ist zudem, dass aus der Figaro/Così-Besetzung von September/Oktober 2021 eigentlich niemand mehr für Don Giovanni vorgesehen ist (oder nur, wenn man die Online-Premiere vom April zugrundelegt; damals waren Riccardo Fassi, Elsa Dreisig und Serena Sáenz jeweils Figaro, Almaviva und Susanna und sollen im April 2022 Leporello, Elvira und Zerlina singen). Jedoch können Besetzungen in der realen Opernwelt nicht immer so ideal sein wie auf dem Papier oder in Studioproduktionen.

Das interessanteste an dieser Versuchsanordnung, wenn Guglielmo aus Così zum Conte Almaviva aus Figaro und später zu Don Giovanni wird, sind anders gewichtete Figurenverhältnisse, weniger die Frage einer individuellen Entwicklung und Lebensdarstellung bzw. die Ableitung dieser konstruierten Biographie zum exemplarischen post 68-Lebensweg. Hauptfigur in allen Opern wird damit ein zuvor nicht zentraler Mann. Im Figaro ist es damit nicht mehr der frühere Barbier von Sevilla und spätere Kammerdiener des Conte Almaviva, sondern standesgemäss dieser selbst; die wichtigste Paarrolle damit die des adeligen Ehepaars und nicht mehr die des plebeijschen Brautpaars bzw. der Verlobten, die heiraten und sich vor adligen Privilegien und Übergriffigkeiten durch List schützen wollen. Eine politische Entscheidung, da das Dienerpaar Figaro/Susanna revolutionär die Rolle des ersten und einzigen Liebespaars in dieser Oper übernimmt, Bartolo und Marcellina oder Almaviva und Rosina singen keine Liebesduette; Huguet treibt eine Restauration voran, die er nicht beabsichtigen sollte. Folge ist Entpolitisierung (eine Verschiebung, die von Größen wie Walter Felsenstein schon unmittelbar nach 68 vorgenommen wurde, dieser erklärte schon 1975, für Mozart und Da Ponte „stehen nicht revolutionäre oder allgemeiner politische Aspekte im Vordergrund, sondern psychologische! Figaro ist kein Revolutionär ...“).

Almaviva rückt zur Hauptfigur auf bzw. auch seine Ehe mit Rosina und diese selbst ins Zentrum. Entsprechend ist es naheliegend, dass die schönste Frau genau diejenige ist, über die der Graf als Ehefrau ohnehin verfügt, was ihm aber nicht reicht, weil er unersättlich auch alle anderen begehrt: Rosina ja eh, Barbarina ohnehin, aber auch Susanna, weitere Blumen- und Bauernmädchen etc. Zugleich wird Almaviva und Don Giovanni nicht mehr als unsteter Verführer oder liebenswerter Frauenliebhaber mit Hang zum Küchenpersonal sichtbar, sondern als ehebrüchiger, übergriffiger, triebgesteuerter Adliger, der seine Ehefrau mit deren Dienstpersonal hintergeht und seine Triebe rücksichtlos auslebt. Sein jugendliches Pedant ist Cherubino, der auch immer wieder ins desaströs Unkontrollierbare verfällt und seinem „desio ch’io non posso spiegar“ hilflos ausgeliefert ist: „non so più cosa son, cosa faccio“. Cherubino begehrt nicht nur Barbarina und Rosina, zwingt sich wie Almaviva auch der als Susanna verkleideten Contessa auf: „E perché far io non posso quel che il Conte ognor farà?“ Dass er bei Huguet mit Rosina durchbrennt, vereint den Diener mit seinem Herrn, weil beide die nötigen Selbstregime der Askese, des Triebverzichts und der Selbstregierung nie erlernt haben. Der antike Gebrauch der Lüste erfordert laut Foucault gerade, sich nicht von ihnen versklaven zu lassen, Selbstbeherrschung zu üben statt sich beherrschen zu lassen, gegen sich selbst und für sich selbst im Kampf zu obsiegen; genau dies gelingt aber weder dem Conte noch seinem Pagen, beide sind Triebtäter, Sklaven ihrer Leidenschaften.

Nach Huguets Vorgabe müsste sich Almaviva danach ohne Ehefrau auf Reisen begeben und schließlich wieder in Spanien ankommen („una città della Spagna“ lautet die Angabe in Don Giovanni). In dieser Zeit – nach der eigenen Ehe – würde er seine amourösen Abenteuer, Eroberungen und Ehebrüche absolvieren, bedenken wir Leporellos Statistik: „In Italia seicento e quaranta, in Almagna duecento e trentuna, cento in Francia, in Turchia novantuna, ma in Ispagna son già mille e tre!“ In Così ist Guglielmo noch kein Schürzenjäger, lediglich genauso untreu und wankelmütig wie Ferrando, Fiordiligi oder Dorabella. Das titelgebende „Così fan tutte“ wird schon im Figaro variiert zu „come fan tutte quante“ oder „così fan tutte le belle!“ Noch schlimmer sind die Ehemänner, nicht nur untreu, auch noch besitzergreifend, eifersüchtig und gewalttätig: „Come lo sono i moderni mariti: per sistema infideli, per genio capricciosi e per orgoglio, poi tutti gelosi.“ Ob man dem Pathos folgen will, mit dem Huguet sein Narrativ beschreibt, ist eine andere Sache: „Im Grunde genommen erzählt die Trilogie die Geschichte einer schweren chaotischen Befreiung, die sich in vielerlei Hinsicht als eine Initiation erweist und dennoch den einzigen Weg zum Glück darstellt.“ Was wäre eine solche Glückslehre im Sinne von Foucault oder Houellebecq? Bezogen auf Don Giovanni? Worin besteht das Unglück?

Von solchen Reframings abgesehen, funktioniert Huguets Figaro-Inszenierung (die Regie der beiden anderen Opern kann noch nicht beurteilt werden, im Programm ist die Rede von „direkt nach dem Mai 1968“ und „auf einem italienischen Strand“ über Così, während Don Giovanni „uns bis zur heutigen Zeit führt“, um „heute [zu] enden“) ohne solche Trilogie-Ansprüche leidlich, musikalisch ja ohnehin. Aufgrund einer fast gänzlichen Neubesetzung im Unterschied zu derjenigen vom April ist die Bezeichnung Premiere auch ohne das vorgestellte „Publikums“ durchaus angebracht. In dieser Besetzung gab es den Figaro in Berlin noch nie zu hören, und sie ist absolut hörenswert. Absolut sehenswert ist sie nicht. Es ist keine der Inszenierungen, die alles neu zeigen, die Augen öffnen und noch Jahre lang gültig sein werden; auch wenn sie nicht schlechter sein mag als manches, was es an Figaro-Inszenierungen in den letzten Jahren gegeben hat. Wer als Fan von Patrice Chéreau erwartet, sein langjähriger letzter Assistent, der nebenbei auch Bearbeitungsrechte für alte Chéreau-Inszenierungen ausübt, wäre in die Fußstapfen des Meisters getreten, wird enttäuscht sein. Auch wer sich fragt, warum es nötig war, den letzten Staatsopern-Figaro (2015 von Jürgen Flimm im Schillertheater, von Gustavo Dudamel dirigiert) schon nach fünf Jahren zu entsorgen, wird keine Antwort erhalten. Nicht alles Neue ist besser. Dass Huguet 2012 beim Figaro von Jean-Paul Scarpitta in Montpellier assistierte, macht es noch unverständlicher, warum seine eigene neue Regiearbeit nicht interessanter und relevanter ausfällt.

Ungewöhnlich ist, dass die Ouvertüre bei geschlossenem Vorhang fast komplett durchgespielt wird, bevor im ersten Akt eine Mischung aus Wohn- und Waschküche zu sehen ist (Bühnenbild Aurélie Maestre), wo sich einige Statisten, aber auch schon Figaro (Gerald Finley) und Susanna (Anna Prohaska) zu Aerobicgymnastik rhythmisch bewegen (Choreographie Thomas Wilhelm). Das sei in einer Linie mit Pedro Almodóvars Filmen zu sehen, wünscht der Regisseur, „in den achtziger Jahren, in einem großen Haus à la Almodóvar“. Erinnert wird man aber eher an die berühmte Figaro-Inszenierung von Peter Sellars im New Yorker Trump-Tower, die im ersten Akt eben in der Laundry einsetzt; die Da Ponte-Opern von Sellars spielen aber nicht nur in den späten 1980ern, sondern wurden auch damals inszeniert, waren also unmittelbar zeitgemäß; und sie wirken auch heute noch zeitlos, sind echte Klassiker, was man von denen Huguets wohl nie wird behaupten können. Seine Figaro-Arbeit ist keine Inszenierung, die in irgendeiner Weise notwendig wäre bzw. auch nur aktuell, akut, stimmig; keine, wo man sich, während man sie sieht, spontan keine bessere und überzeugendere Umsetzung vorstellen kann, weil einfach alles passt. Eine Inszenierung sollte es aber schaffen, das Publikum zumindest beim ersten Mal zu interessieren und ihm auch Präsenz- und Gegenwartserfahrungen zu vermitteln. Und nicht ausstrahlen, dass sie historisch orientiert, gestrig, vernachlässigbar ist, nur zitiert und Fremdreferenzen abarbeitet. An eine solche Inszenierung wird sich schon bald kaum jemand mehr erinnern.

Mit dem Stichwort Almodovár ist zumindest erklärt, warum Figaro seinen Gästen Gazpacho serviert. Offenbar ist es kein mit Schlaftabletten versetzter, zumindest auf der Bühne bleiben alle munter. Im Publikum ist das weniger ausgemacht, auch wenn Schnarchen nicht zu vernehmen ist. Es mag diese Spannungslosigkeit daran liegen, dass die Premiere bereits übertragen wurde und der Eindruck ein halbes Jahr später eben nicht mehr ganz so frisch und unverbraucht ist. Was es bedeutet, wenn man eine bekannte Premiere später erst live wahrnimmt, was für viele Opernerfahrungen im Lockdown stehen kann, führt im Morgenblatt Alexander Sperling vor, wenn er über die „Corona-Lektionen“ räsoniert, die ihm zuteil wurden: „Dass man dem ‚Figaro‘ auch per Livestream beiwohnen kann. Dass man dem ‚Figaro‘ nicht per Livestream beiwohnen kann.“ Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss, entsprechend kann es zwei Premierenerfahrungen vielleicht nie geben. Es ist aber grundsätzlich problematisch, wenn Jahrzehnte alte nostalgisch belegte Filme, die zu ihrer Zeit für homosexuelle Befreiung und wilde eskapistische Komödien nach der Franco-Diktatur standen (Huguet nennt explizit La ley del deseo und Mujeres al borde de un ataque de nervios), einen atmosphärischen Ausstattungs- und Sehnsuchtsrahmen für eine Inszenierung abgeben, die 2021 funktionieren soll. Das Spanien des Figaro ist kein hauptstädtisches und madridbezogenes, sondern um Sevilla angesiedelt, das Schloss von Almaviva in der andalusischen Provinz im fiktiven Aguas frescas situiert.

Hochzeitsbegierige am Rande des Nervenzusammenbruchs, 80er Jahre-Setting. Entsprechend sind die normativen Leibesübungen Aerobic und Hantelheben, Discofox und Ausdruckstanz und weniger körperliche Liebe und offen ausgelebte Sexualität. Figaro etwa schreitet nicht sein Schlafzimmer für die Dimensionen des Ehebetts aus, sondern zählt, wie viele Liegestütze und Situps Susanna schafft. Fitness statt Sex, alles ohne zu explizit zu werden. Das ist durchaus amüsant, auch wegen der Kostüme (Clémence Pernoud). Passend zur Einrichtung werden Modesünden der 80er zitiert und textile Entgleisungen in Erinnerung gerufen, Pastell- und Neonfarben, moon- und stonewashed Jeans, Schulterpolster, übergrosse Logos, Ballonseide. Das könnte als Aktualisierung durchgehen: Mit dem Trainingsanzug von Cherubino oder dem Vollbart von Antonio wäre man auch in einer Hipster-WG willkommen, wenn dort auch kein Filterkaffee getrunken würde.

Bei Akt zwei und drei funktioniert die Almodóvar-Vorgabe noch weniger, hohe goldene Wände mit Schiebetüren und schwarze Wand-Blöcke wären ein passabler orientalisierender Tempel oder Palast für eine Aida- oder Nabucco-Inszenierung (mit passendem ausgestopftem Leoparden), kaum für das Spanien der 80er Jahre. Das Bühnenbild erinnert an neureiche Geschmacklosigkeiten, wie sie in Hollywood-Ausstattungsfilmen als charakteristisch für die 70er zelebriert werden (etwa in Formans Larry Flynt-Biopic). Almaviva (Gyula Orendt) ist Musikmanager, Konzertveranstalter oder Produzent, Contessa Rosina (Federica Lombarda) war früher wohl einmal ein Star oder Sternchen mit nennenswerten Plattenverkäufen (die hängen als goldene nun an der Wand). Vielleicht verdankt sich der Reichtum des Paars nur dem musikalischen Erfolg von ihr. Doch die Fans, die im dritten Akt nicht nur mit Blumen, auch mit Teddybären und Postern, auf denen „Rock on Rosina“ steht und diese Blondie-like wie Debbie Harry zeigen, anrücken, sind nur wenige, alles vorbei, „dove sono i bei momenti“? Kammerdiener Figaro wäre entsprechend eine Art Plattenboss-Assistent, ist aber auch Faktotum und Majordomus und sichtbar abhängig beschäftigt (ein Hausmeister; Susanne rennt ebenfalls in der Kittelschürze herum wie eine Haus- oder Putzfrau).

Seit Me too ist die Couch eines Musikprozenten etwas, was man neu zu sehen gelernt hat; aber darauf räkelt sich, von einer Szene mit Susanna vor der Couch abgesehen, einsam nur die Contessa (Susanna stattdessen zieht an Almavivas Riesenschreibtisch eine Zigarre hervor, assoziiert überseeische Übergriffs- und Missbauchsszenarien à la Oral Office). Wenn sich Almaviva mit seiner Ehefrau im dritten Akt doch einmal auf die Coach legt, ist es gerade keine Szene übergriffiger Sexualität oder eines Ausdrucks von Machtausübung, sondern zärtliches Gegenteil: das Ehepaar nähert sich erst- und letztmalig einander an, bevor im vierten Akt klar wird, dass diese Ehe wohl nicht zu retten ist. Dieser letzte Akt leider auch nicht. Er ist so konventionell inszeniert, mit Orangenbäumchen im nächtlichen Andalusien und Blumenkübeln, die mit bunten Majolika-Scherben besetzt sind, dass man seinen Augen kaum traut. Durch Verkleidungen mit Tiermasken ist alles eher fad (wer ist der Wolf? wer die Ziege? wer die Giraffe?). Dass Figaro von Susanna mit Orangen beworfen wird wie zuvor Almaviva von seiner Frau mit Lockenwicklern, macht es nicht lustiger. Ist die überlange Schaukel, auf der sich die als Susanna verkleidete Rosina setzt, um ihren Gatten auf sich aufmerksam zu machen, ein Rokoko-Zitat oder eine Anspielung auf die neue Zauberflöten-Inszenierung oder was?

Pep kommt erst am Ende hinein, wenn in den Sekunden vor dem Vorhang und zu den letzten Musiktakten (und gegen das Libretto) Cherubino seinen Herrn wegstößt, die Gräfin packt und sich mit ihr in die Büsche schlägt (auch Almaviva entführte Rosina einst im Barbiere). Das kann man als Cliffhanger zum Don Giovanni sehen, verweist es faktisch auf den dritten Teil von Beaumarchais’ Trilogie (in L’Autre Tartuffe ou La Mère coupable hat die Gräfin als „schuldhafte Mutter“ ein aussereheliches Kind von Cherubino, Chevalier Léon, der eine ebenfalls uneheliche Tochter des Grafen Almaviva, Florestine, heiraten will). Freilich sind solche Cliffhanger Merkmal von Soap Operas, und das ist der Eindruck, der optisch zurückbleibt, nicht der, gerade den neuesten (oder ältesten) Almodóvar-Film gesehen zu haben: Dass man eine beliebige und auch inszenatorisch beliebige Soap Opera sah, zu der es tolle Musik gab, die aber das Requisitenhafte und unechte, den Schmock, die falschen Lacher, nicht verbergen kann. Was schade ist, lacht man doch mitunter gern und bereitwillig mit, es gibt witzige Einfälle: Wenn mit der Bedeutung von chiamata/chiamare gespielt wird und sich die chiamate der Contessa, von denen Figaro singt („Se a caso madama la notte ti chiama“), auf ein Wandtelephon beziehen, mit dessen Kabel sie von Marcellina später herrlich gewürgt werden soll; wenn Susanna bei „don don“ Figaro mit dem Unterleib stösst, um ihm zu verdeutlichen, warum ihr neues Zimmer strategisch gut betretbar auch für den Grafen liegt (dong dong ist ja nicht nur Onomatopoesie der Klingel); wenn Musikkassetten für die Lieder stehen, die Cherubino oder Rosina singen; wenn die Gitarre, auf der Susanna in Wirklichkeit nie selbst spielt, da immer ein Orchesterinstrument zu hören ist, durch eine elektrische ersetzt wird und sie entsprechend Luftgitarre spielen kann.

Wo man aber in eine Soap einsteigt und wo man sie verlässt, ist gleichgültig, es ist ein Strom von Beliebigkeit, der sich seriell aneinanderreiht; wer eine Folge verpasst, bemüht sich erst gar nicht, sie nachzuholen, die nächste kommt ohnehin. So lässt sich auch gleich mit der „Mozart-Da-Ponte-Trilogie II“ einsteigen. Für Huguet ist die Verschiebung zu Cherubino und Rosina zentraler, als es seine Guglielmo/Almaviva/Don Giovanni-Trilogie nahelegt (es mag an der Übersetzung liegen, dass diese Ausführungen so kitschig klingen): „Cherubino, der [...] sie anschaut, wie man sie lange nicht angeschaut hat [...] gibt [...] ihr die Lebenslust und ihr Selbstvertrauen zurück ... […] denn sie ist es, die ohne Furcht und Tadel in der Gewitternacht des vierten Akts das Spiel des Partnertauschs einführt. Jene Liebe, die Mozart und Da Ponte in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen, ist also keine konventionelle […] Die Begierde hat ihre Gründe, die der Verstand nicht kennt …“ Das Spiel des Partnertauschs – wie französisch! Mit Cherubino, der ersten Hosenrolle in der Geschichte der Oper? Da hätte man transgendermässig und hinsichtlich neuer Divers-Orientierungen weit mehr herausholen können. Passiert aber nicht, die monogame Ehe wird nur zur Dreiecksgeschichte bzw. nach dem Modell serieller Monographie eine Besetzungsrunde weitergedreht (und wäre sogar eine Vierecksgeschichte; immerhin soll Cherubino weggeschickt werden, weil ihn der Conte mit Barbarina erwischt hat; wäre er mal so schlau gewesen). „Trilogie der Befreiung“ kann kaum heißen, sich von jedem Sinn zu befreien.

Eine Inszenierung von 2021. Nicht von 1968, nicht von 1988. Da müsste dann einfach auch mehr passieren. Statt Aktualisierung zwanghafte Verortung in der Vergangenheit: 68er, 88er. Wenn dann nochmal 20 Jahre draufgepackt werden, sind wir auch erst im Jahr 2008. So retrograd ist das alles. Dabei war die Bearbeitung des Beaumarchais-Dramas durch Da Ponte 1785 bereits ein politisches Entschärfungsverfahren. Beaumarchais’ Figaro wurde oft nachgesagt, die revolutionäre Stimmung vor 1789 nicht nur eingefangen, sondern auch angeheizt zu haben. Bei Huguet bleibt davon nur noch sexuelle Revolution übrig. Aber selbst bei der weiß man nicht recht, worauf sie eigentlich hinauslaufen will. Eingeheizt und stimuliert wird hier gar nichts.

Der Stoff bietet alles, was gegenwärtig die Menschen umtreibt: sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung inner- und außerhalb der Ehe; soziale Spannungen zwischen Besitzlosen und Besitzenden, die nur durch wundermäßige Wiedererkennungen aufgelöst werden (Figaro ist Raffaelo, der Sohn Marcellinas und Bartolos, und mit einem Mal frei und reich; oder sollte man sagen: es kommt nicht zum Inzest). Fragen nach Jugend, Alter, Eigentum, Vermögen, Treue, Verlässlichkeit tauchen auf. Wer Geld, Einfluss, Macht, Privilegien hat und wer nicht, wer kreditwürdig ist und wer darüber entscheidet, ob es jemand nicht ist (Figaro wird von allen ausgelacht, wenn er sagt: „Son gentiluomo“). Die Rolle des Militärs und die Frage, wer wen zum Sterben in den Krieg schicken oder verschonen kann. Wer welche Privilegien wahrnimmt und verteidigt, nicht nur beim ius primae noctis. Das umfasst sogar Regimes und Techniken, wie sie Foucault als Biopouvoir und Biopolitique beschrieb, nicht nur die Macht darüber zu strafen, sterben zu machen und leben zu lassen, sondern auch leben zu machen. Machtmissbrauch hat viele Gesichter.

Wenn man die Lacher fortlässt und die fabelhaft lustige Stimmung, die dieses Inszenierung verbreitet, beiseite schiebt, steckt wenig dahinter. Was nicht an den Musikern liegt, die ihre Arbeit perfekt erledigen. Die Diskrepanz zwischen großartiger Musikdarbietung und leerer Inszenierung wird nur umso spürbarer. Der vom kanadischen Bariton Gerald Finley routiniert gesungene Figaro etwa ist ein super Typ, mit Schnauzer, Muskeln und Brusthaaren. Er würde auch als Tom of Finland-Ikone begeistern, trägt neben schwarzen Lederhosen ein rotes Bandana-Tuch um den Hals, Muscle-Shirts und hat meist eine Kippe im Mund. Die schnellen Rezitative und Ensemble-Stücke machen Finley mitunter zu schaffen, auch bei „Non più andrai, farfallone amoroso“ kommt er nicht ganz hinterher, muss dabei auch noch Cherubino hoppereiten, was beschwerlich ist. Aber er ist immer voll da, glaubhaft und präsent, etwa wenn er „Signor Contino“ androht, dessen Machenschaften zu vereiteln („tutte le macchine rovescerò“) und mit dem Messer droht. Schade ist, dass dieser zupackende Bariton wegen der Trilogie-Besetzung nicht mehr auftreten wird (für Leporello ist kommendes Jahr wieder Riccardo Fassi vorgesehen, der Figaro im April bei der Digital-Premiere sang).

Schon in der Vorgängerproduktion der Staatsoper sang Anna Prohaska die Susanna und ist es auch jetzt wieder: fabelhaft, favolosa, zum Anbeten und Niederknien. Eine bessere Besetzung wird man für diese Rolle gerade nicht finden, sie könnte ein Schild mit sich herumtragen, auf dem schlicht „Perch’io son la Susanna“ stünde. Weil sie es kann. Weil sie es ist. Sie macht alle Misslichkeiten und Ärgernisse der Inszenierung wett, singt nicht nur überragend, sondern spielt dabei auch so schnell, witzig und intelligent, dass nichts zu wünschen bleibt. Auch Katharina Kammerloher war als Marcellina bereits in der Flimm-Inszenierung zu erleben, sie steigert sich noch einmal sowohl stimmlich als auch schauspielerisch: Wenn sie überschminkt mit Augenaufschlag im Leopardenmantel die alte heiratswillige Jungfer gibt, die auf Erfüllung des Eheversprechens beharrt, ist man fasziniert und begeistert zugleich. Die komödiantischen Effekte, die sie mit Prohaska etwa bei „Via resti servita, madama brillante“ erreicht, sind überwältigend, genau und schnell aufeinander abgestimmt. Wenn die Almodóvar-Parallele irgendwo aufgeht, dann mit ihr, sie spielt eine gealterte Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, lebenslustig, schrill und schön.

Wohl einem Haus, das ein solches Ensemble aufweist, das sich wirklich sehen und hören lassen kann, zu dem mit dem ungarischen Bariton Gyula Orendt auch der Graf Almaviva zählt. Er ist freilich zu sympathisch, zu freundlich, spielt die dämonischen Anteile der Partie nicht aus (wie sie selbst noch jemand wie Fischer-Dieskau, nicht zu reden von Thomas Allen, Rod Gilfry oder Bo Skovhus, mitbrachten). Die sängerische Leistung aber ist vortrefflich, und es löst Vorfreude aus, dass Orendt bald auch in Così Guglielmo singen wird, was absehbar eine gute Besetzung sein wird (als Don Giovanni ist er für Huguets Trilogie dann wieder nicht alt genug; da allerdings darf man sich 2022 auf Michael Volle freuen).

Die berührendste Stimme gehört aber jemand anderem, der jungen Federica Lombardi als Contessa. „Dove sono i bei momenti“ ist vielleicht der Höhepunkt des Abends, sieht man von den Ensemble-Stücken ab; auch die Kavatine der Gräfin, „Porgi amor qualche ristori“ gelingt melancholisch und tief. Gesungen von einer so berückend schönen und ebenso schön singendenden Frau, stempelt Lombardi Almaviva gänzlich zum Idioten ab, dessen Verhalten noch viel unerklärlicher wird. Da hätte er das beste Leben und tritt sein Glück mit Füßen. Sehr gut besetzt ist mit dem dritten Sopran aber auch der Nebenbuhler Cherubino durch Corinna Scheurle, die nicht nur bei Arien wie „Non so più cosa son“ überzeugt, sondern quirlig und schnell die erheblichen Anforderungen an Versteckspiel und Beweglichkeit erfüllt, die ihr hier abverlangt werden.

Eindrücklich auch die Besetzung alter Veteranen: Die Wagner-Legende (nicht nur, aber vor allem) Siegfried Jerusalem steht mit 81 Jahren noch als Curzio auf der Bühne, keine grosse Rolle, keine, in der man richtig strahlen kann, aber trotzdem eine eindrucksvolle Erscheinung mit immer noch erstaunlicher Stimme. Und wenn die kleinen Rollen so gut besetzt sind! Peter Rose als Bartolo zeigt ebenfalls, was er kann, nicht nur bei „oh la vendetta“, auch bei seinen Ensemble-Auftritten. Barbarina wird von der russischen Sopranistin Liubov Medvedeva sehr gut dargestellt, als schüchterne junge Frau, die heillos von den sexuellen Nachstellungen überfordert ist, singt anrührend, wenn auch nicht ganz perfekt, während Antonio, ihr Vater, durch David Oštrek sehr gut gesungen und gespielt wird. Auch zum Ensemble gehört Florian Hoffmann, der den Don Basilio gut verkörpert.

Die Staatskapelle spielt unter Daniel Barenboim freudig und frisch, kommt an die Nuancierungen und den Detailreichtum, wie sie für auf historische Aufführungspraxis und zeitgenössische Instrumente spezialisierte Formationen mittlerweile selbstverständlich sind, im weiten Spektrum von Östman über Harnoncourt, Gardiner, Jacobs hin zu Currentzis, nicht ganz heran. Das Tempo ist mitunter etwas verhalten, die Dynamik teilweise flach. Energie und Spielfreude, die sich mit den überragenden Stimmen zu einem sehr gelungenen musikalischen Ganzen verbinden, sind definitiv vorhanden, auch die schiere Glücksempfindung darüber, dass es wieder solche Aufführungen gibt. Überhaupt steht mit Barenboim, das sollte man nicht vergessen, jemand am Pult, der eine enorme Erfahrung aufzuweisen hat, was Mozarts Opernmusik angeht. Sein Operndebüt war 1973 mit 31 Jahren Don Giovanni, allein Figaro hat Barenboim dreimal aufgenommen und unzählige Male dirigiert, nicht nur in Berlin und nicht nur mit seiner Staatskapelle. Zugleich dirigiert er gerade nicht einfach alles routiniert herunter, auch die Orchestermusiker vermitteln im Gegenteil den Eindruck, besonders intensiv und fleißig geprobt zu haben und diesen besonderen Abend sehr ernst zu nehmen. Alle stehen zum Schlussapplaus auf der Bühne. Schön ist, dass die Rezitative im zweiten und dritten Akt durch ein auf der Bühne sichtbar plaziertes Cembalo begleitet werden, was dem Musik-Setting der dort zugeordneten Bühnenbilder (im Gemach der Sängerin und dem Büro des Musikproduzenten) entspricht. Hier wird der Korrepetitor und Cembalist Lorenzo di Toro ins Spiel einbezogen, darf szenisch mitagieren, nicht nur auf der Klaviatur.

Man kann diesen neuen Berliner Figaro also auf jeden Fall genießen: Als Erfahrung, die monatelang nicht mehr möglich war, eines vollen Opernhauses mit Pausengesprächen (3G ist Voraussetzung). Mit günstiger Eintrittskarte mit eingeschränkter Sicht zum Preis eines Kinobesuchs (Steh- und Partiturplätze gab es in der Staatsoper schon vor dem Umbau nicht, sie wären eigentlich sozialistischer gewesen; Opernkenner hatten für die Akustik solcher Plätze immer ein besonderes Faible und waren an der Optik von Opern ohnehin immer weniger interessiert). Auch im Parkett oder auf einem Platz im Rang mit guter Sicht, wenn man den bemühten Überbau (sexuelle Befreiung, Foucaults Gebrauch der Lüste, Almodóvars Gesetz der Begierde) erst gar nicht zur Kenntnis nimmt und sich an gut spielenden und überragend singenden Darstellern erfreut, die von einem wie immer sehr gut einstudierten Chor (Martin Wright) und einer großartigen Staatskapelle begleitet werden. Zumindest kann es nach so einer Publikumspremiere nun wieder ein ganz normaler Opernbesuch werden.