Wieder eine Publikumspremiere von etwas, das zuvor bereits virtuell, am 13. Dezember 2020 per Stream und Fernsehen auf Arte, zu sehen und hören war, diesmal das Schwanenrittermärchen Lohengrin an der Berliner Staatsoper. Mit König Heinrich möchte man „zu End’ ist nun die Frist“ ausrufen, „nun ist es Zeit“. Schließlich bleibt Oper und besonders diejenige Richard Wagners auf Livemusik und große Bühne angewiesen. Lohengrin endlich erleben zu dürfen, ist höchsterfreulich; auch wenn derzeit unsicher ist, wie lange und unter welchen Auflagen dies möglich bleiben wird (Termine nach der Publikumspremiere vom 30. November am 4. und 12. Dezember sowie im April und Mai 2022).
Dass Calixto Bieito bei seiner ersten Regiearbeit an der Staatsoper anders als sonst Blut, Gewalt und Sex weglässt, war durchs Preview bekannt. Neuigkeiten gab es trotzdem, nämlich bei den Besetzungen: Statt Roberto Alagna übernahm die Titelrolle nun begrüßenswerterweise Andreas Schager; statt René Pape nun Gábor Bretz, der gut sang, aber an das von Pape zuverlässig gelieferte Heinrich-Niveau nicht heranreicht. Statt der für die Onlinepremiere eingesprungenen bravourösen Vida Miknevičiūtė gab es eine echte Elsa, die südafrikanische Sopranistin Elza van den Heever, die den enormen Erwartungen gerecht zu werden verstand. Diese Umbesetzungen sind als Gewinn bilanzierbar.
Thomas Guggeis zeigte mit der Staatskapelle, wie beide Wagner gewachsen sind. Das wurde nicht nur in den Vorspielen, sondern auch in den Finali hörbar, die großartig gelangen. Wenn sie auch visuell verhunzt wurden: Filmprojektionen, im Programmheft „Elsas Traum“ betitelt: „Geburt“ eines ausgewachsenen Schwanes aus schwangerem Frauenkörper, Verwurschtelung des Leda-Mythos unter Verwendung von „Schwangere und Schwan“ von Joseph Beuys, immerzu schwarz-weiß, ertrinkendes Brüderlein, in Hauptstadt verirrter Lamborghini mit HVL-Provinzkennzeichen, surrealistische (alp)traumartige Sequenzen mit affektprovozierenden Ekelhaftigkeiten wie Körperausscheidungen, Duce Mussolini, Pink Panther etc.
Großartig wie immer der Chor, einstudiert von Martin Wright. Was diese Formation in ihrem 200. Jubiläumsjahr abliefert – Lohengrin ist eine Choroper, in der prägnant und schnell zu agieren ist und unbedingt passgenau – bleibt eindrucksvoll. Musikalisch nichts auszusetzen, auch nicht bei den exponierteren Nebenrollen, vier Edlen und Edelknaben sowie acht Frauen beim Brautlied. Obwohl sogar den Choristen störende Hampeleien und Verrenkungen abverlangt werden.
Die beste Besetzung war als Ortrud die russische Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova. Sie hat sich als Wagnersängerin – im Sommer etwa in Bayreuth als Venus – sowie auf unterschiedlichen Bühnen zuvor als Brangäne, Erda oder Fricka – eine Ausnahmestellung ersungen, der sie gerecht wurde. Gubanova gibt diese in den Wahnsinn abdriftende letzte Heidin böse, dämonisch, verzweifelt, zeigt eindrücklich den Abstand zwischen christlicher Welt und alten Göttern, die sie mit Wodan und Freia heraufbeschwört. Sie spielt am besten, verkörpert Hass, Rache, Wut und maximale Leidenschaft.
Interessante Frau, mag sich Friedrich von Telramund, von Martin Gantner fein und hell gesungen, gedacht haben, als er auf Ortruds „Weissagung“ ansprang, „bald würde Radbods alter Fürstenstamm von neuem grünen und herrschen in Brabant“ und sie erwählte. Gantner ist Gubanovas gesanglich ebenbürtiger Partner, zarter Bariton, verletzlich und nuanciert. Friedrichs Enttäuschung nimmt man ihm ab, er ist kein Draufgänger, empört über Elsas vermeintliches Verbrechen und Lohengrins Zauberei. Problematisch nur sein Alter; mit grauem Haar wirkt er älter als alle anderen, um die junge Elsa hätte er kaum freien sollen.
Den Frustrierten gelingt die Machübernahme ebenso wenig die das Kinderkriegen. Unfruchtbare Ehe, verkorkste Familiengenealogie, unheilbar. Zugleich das interessantere Paar. „So zieht das Unheil in dies Haus“ erkennt Friedrich, für Ortrud verbleibt nur „ein Mittel der Gewalt“. Bieito will beide als „Menschen mit verschiedenen Traumata“ vorführen. Darauf versteht er sich sonst besser; vieles bleibt unplausibel, enigmatisch. Ortrud hält ein neonorangefarbenes Lamborghini-Modellauto im Arm, streichelt es wie eine Puppe; später eine wirkliche Puppe, um sie herum viele weitere, die sie wie zum Stillen ansetzt. Befremdliche Puppenmutti. Bieito diagnostiziert, „dass bei den Erwachsenen in der westeuropäischen Gesellschaft ein großer Infantilismus herrscht.“ Befreiend, wenn Friedrich die Puppen im Müllsack entsorgt. Oder Ortrud die fünfstöckige Hochzeitstorte umtritt, mit Barbiepuppen-Hochzeitspaar samt Kindern, Elsas Spielzeug.
Diejenigen, die etwas schwächeln, sind anfangs Adam Kutny als Heerrufer (was sich bessert; zugleich wird seine Rolle und sein Spiel zunehmend alberner) und im ersten Akt, wenn er leise und verhalten sein soll, leider auch Andreas Schager in der Titelrolle. Doch er teilt sich die Partie gut ein, im dritten Akt im Brautgemach und bei der Gralserzählung ist er präsent, singt voll aus. Auch van den Heever meistert ihre Rolle, stellt die Traumerzählung „Einsam in trüben Tagen“ klar und treffend dar. Sie kommt auch im Duett mit Ortrud nie an ihre Grenzen, verkörpert die naive, reine Unschuld („Kehr bei mir ein! Laß mich dich lehren, wie süß die Wonne reinster Treu’!“). Zudem: das Zusammenspiel zwischen Solisten, Chor und Orchester gelingt exzeptionell.
Im Unterschied zur musikalischen Qualität ist Bieitos erste Regiearbeit an der Staatsoper eine Frechheit. Das gilt nicht für Bühne (Rebecca Ringst), Kostüme (Ingo Krügler) und Licht (Michael Bauer), das durch Leuchtstoffröhren Teil des Bühnenbilds wird und emotionale Bedrängnisse strahlend ausleuchtet oder düster verfinstert. Alles, worauf man sich freut, wird ausgelassen und vermieden. „Viel lieber tot als feig“ möchte man mit Friedrich ausrufen; von wegen Skandalregisseur. Das Märchenhafte, Übernatürliche, Verzaubernde, wie etwa in der aktuellen Bayreuth-Inszenierung Yuval Sharons (mit Zwischenbildern von Neo Rauch) starkgemacht, fällt weg, wird einem Ikea-Pragmatismus geopfert; unfestlich, dröge.
Nie sensationelle Auftritte oder Kämpfe, keine Schwerter, Waffenverbot wie im Waldorfkindergarten, kein Schwan (doch; jedoch so klein, dass man ihn lange übersieht: in Origamifaltung aus Papier, der Lohengrin kaum wird transportiert haben können), dazu als Gottfried-Gaben Plastikkurzschwert und Piccolotrompetchen, wild und gefährlich wie Papiertiger und Kinderspielzeug). Wenn bis auf Kinderwaffen und (vermutlich) toxische Grünpflanze keine Waffen vorhanden sind, kann es keinen Schwertkampf zwischen Friedrich und Lohengrin, keinen Catfight auf den Münsterstufen mit Herumgeschubse, keine Selbstverteidigung mit Todesfolge im Brautgemach geben. Und keine einzige noch so ärmliche Idee, wie der Konflikt zwischen diesen Personen dramatisch und körperlich dargestellt werden könnte (sorry: Filmprojektion eines in Endlosschleife abgefeuerten Revolvers, vergessen).
Stattdessen steht statt Gerichtseiche ein weißer Gefängniszellenkäfig auf der Bühne, in den sich Elsa, Friedrich oder Heinrich begeben, eine Art Pranger, auch Ort, wohin geflüchtet wird, um Verfolgung zu entgehen. Wenn sich Friedrich beklagt: „Die Acht ist mir gesprochen, zertrümmert liegt mein Schwert, mein Wappen ward zerbrochen“, fühlt man sich an Luftbuchungen erinnert, da weder Schwert noch Wappen je zu sehen waren, Ächtungen im Umfeld von Bürosesseln und Schreibtischen nicht nachvollziehbar werden. „Ein golden Horn zur Hüften, gelehnt auf sein Schwert“ besingt Elsa ihren Traummann; der aber sieht, Hochzeiter ganz in weiß, gar nicht nach Schwanenritter aus. Dafür steckt sich Lohengrin Zigaretten an, raucht schwermütig sitzend. So ein Heldenleben ist hart, braucht Auszeiten. Das Publikum wünscht sich hingegen, dass es endlich mal losgeht.
Die Personenführung ist, wo sie nötig wäre, minimal bis inexistent; fallsüchtig bis schwachsinnig, wo es besser wäre, die Darsteller würden einfach dastehen und singen. So sinken sie hin, zappeln wie Epileptiker, singen liegend bzw. liegen singend, fallen um, wälzen sich in Rasenteppichen, lümmeln in voluminösen Brautschleiern. Lohengrin ist bei seiner Ankunft nicht sichtbar, singt unvermutet aus dem Chor heraus sitzend vor sich hin; Friedrich schleicht unbewaffnet durch die Ikea-Sitzlandschaft des Brautgemachs und ist einfach so „erschlagen“; seine Leiche taucht nicht mehr auf; Heinrich posiert halbliegend als Posterboy beim Gruppenphoto; Lohengrin kniet und liegt bei der Gralserzählung am Boden. Bevor er Horn und Schwert überreicht, zaubert er sie aus dem Souffleurkasten; worauf die meiste Zeit der Origami-Schwan steht. Der Heerrufer schminkt sich weiß, albert und hampelt herum, es bleibt erratisch, was der Sinn davon ist. „Nie sollst du mich befragen“ mag man sich vorsagen, um nicht allzu frustriert zu sein.
„Mein lieber Schwan“, hätte sich Ludwig II. von Bayern, Wagners wichtigster Mäzen und Förderer, wohl gedacht. Als der als 16jähriger seine erste Lohengrin-Aufführung sah, veränderte diese nachhaltig sein Leben und auch die Musikgeschichte. Was Wagner nach 1864 ohne königliche Hilfestellungen noch komponiert hätte, bleibt offen. Ludwig inszenierte sich als Schwanenkönig, ließ Neuschwanstein und Bayreuth erbauen. Ihm hätte missfallen, was in Berlin zu sehen war; gut, dass Bieito nicht damals inszenierte. So gibt es zwar alle möglichen Schwanenassoziationen, auch im Programmheft, doch keine trägt. Das wusste man jedoch alles von der Premiere 2020. Bleibt schließlich die Musik, und diese war vortrefflich.