Lärm – Zwischen Literatur, Politik, Musik und Philosophie
Eine kleine Geschichte
München, 5. Oktober 2024, Lena Kristin Wittland

„Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter [...]. Dann plötzlich dumpfer eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt [...]. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist ein Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.“¹

In dieser Weise beschreibt der Protagonist von Rainer Maria Rilkes ‚Prosabuch‘ Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Briggegleich in den ersten Zeilen jene akustische Umgebung, die den im Paris des frühen 20. Jahrhunderts spielenden Roman kennzeichnet: die überfordernde Geräuschkulisse der Großstadt. Doch es handelt sich hierbei bei genauerer Betrachtung keineswegs um eine wahllose Aufzählung von Tönen, stattdessen nimmt Malte eine Einteilung in zwei akustische Kategorien vor: während er in den ersten Zeilen einzelne von ihm als negativ aufgenommene Geräusche darstellt, erhalten das Hundebellen sowie der krähende Hahn der letzten Zeilen eine positive Konnotation. Hielten erstere ihn vom Schlaf ab, so ist es ausgerechnet der als Weckruf bekannte Hahnenschrei, der dem überreizten jungen Mann in den Schlaf verhilft. Natürlich ist dies auf die Herkunft dieser Geräuschquellen aus dem Landleben zurückzuführen, die nun, in der Großstadt, als beruhigende Klänge einer überschaubaren Welt Entspannung stimulieren. Doch unabhängig hiervon zeigen jene Zeilen auch die zentrale Eigenschaft von Lärm auf.

Lärm ist nämlich, wie hier deutlich wird, keineswegs eine Sammelbezeichnung für laute Geräusche. Nicht ohne Grund nutzt Malte jenes Wort nur im Rahmen der Aufzählung störender Töne, nicht aber zur Benennung der ebenso lauten, aber einer positiv konnotierten Quelle zuordbaren Geräusche. Lärm, so wird klar, ist Beziehungssache. Er lässt sich nicht anhand von Dezibel erfassen, sondern nur dieses laute Geräusch ist ein Lärm, das den Hörenden stört, dessen Nutzen ihm unklar bleibt oder den er verachtet.

Dass gerade in Zeiten der zunehmenden Urbanisierung und aufstrebenden Industrialisierung rund um die vorletzte Jahrhundertwende die neue Geräuschkulisse ‚Großstadt‘ als Lärm wahrgenommen wurde, wundert nicht. So benennt doch der Soziologe und Philosoph Georg Simmel die Wirkung jenes Milieus auf das Geistesleben nicht nur als „Vergewaltigungen der Großstadt“, sondern führt sogar die Blasiertheit und Reserviertheit der Großstädter auf Anpassungserscheinungen ihrer Nerven zurück, „die [...] ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden, darin entdecken, dass sie sich der Reaktion auf sie versagen.“² Damit bietet diese Zeit den perfekten Nährboden für einen der wohl passioniertesten Anti-Lärm-Kämpfer der Geschichte: Theodor Lessing.

1872 geboren und in verschiedenen deutschen Großstädten lebend, nimmt der durchaus auf Provokation fokussierte Publizist und Schriftsteller Anschluss an Arthur Schopenhauers Haltung, Lärmempfindlichkeit als „Charaktermerkmal des ‚kultivierten Menschen‘“³ zu deuten.

,,Kant hat eine Abhandlung über die lebendigen Kräfte geschrieben; ich aber möchte eine Nänie und Theorie über dieselben schreiben, weil ihr überaus häufiger Gebrauch im Klopfen, Hämmern und Rammeln mir mein Leben hindurch zur täglichen Pein gemacht hat. Allerdings gibt es Leute, ja recht viele, die hierüber lächeln, weil sie unempfindlich gegen Geräusch sind: es sind jedoch eben die, welche auch unempfindlich gegen Gründe, gegen Gedanken, gegen Dichtungen und Kunstwerke, kurz gegen geistige Eindrücke jeder Art sind: denn es liegt an der zähen Beschaffenheit und handfesten Textur ihrer Gehirnmasse."³

So lautet eines der Schopenhauer-Zitate, die Lessing seiner Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens voranstellt. Im Weiteren argumentiert er hierin, die lärmende Umgebung würde den mit dem Kopfe arbeitenden Menschen die letzten Energien rauben und sei somit für das Abebben intellektueller Produktion verantwortlich. Diametral zur Lärmempfindlichkeit als Zeichen bedeutenden Geistes wurde knapp 1900 Jahre zuvor gerade die Widerstandsfähigkeit gegen lärmende Geräusche zur Auszeichnung solcher Geister herangezogen. So beschrieb der römische Philosoph Seneca die Fähigkeit, in „[s]eine[m] Geist, nur auf sich gerichtet zu sein und sich nicht nach außen hin ablenken zu lassen“⁴ als „Zeichen von wahrer Größe“⁵. Die Lärmempfindlichkeit als intellektuelle Auszeichnung ist daher in enger Verbindung zu den kulturellen Strömungen um die Jahrhundertwende zu sehen, innerhalb derer sie einen Teil des „wachsenden Schatten[s] der Decadence“³, also der „vitalen Schwächung und physischen Minderung des Menschengeschlechts“³ im Gegenzug zu seiner intellektuellen und Sinnesverfeinerung darstellt.

Lessing führte jedoch nicht nur einen schriftlichen Kampf gegen den Lärm. Er zieht aktiv mit einem ‚Antilärmverein‘, einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift unter dem programmatischen Titel Der Antirüpel sowie einer Unterschriftensammlung mit dem Ziel, Lärm zu verbieten, gegen Musikautomaten, Teppichklopfer, das „Gehämmer des Kesselschmieds“³ und „die beständige Klage des Kettenhunds“³ ins Feld. Dass Lärm, wie zu Beginn herausgearbeitet, eine Beziehungsangelegenheit ist, lässt sich in Anbetracht von Schopenhauers sowie insbesondere Lessings Bemühungen auf die damalige Hierarchie der Gesellschaft und einen bestehenden Klassenkonflikt übertragen. Denn wenngleich die Intellektuellen jener Zeit die Geräusche der Straße als Lärm wahrnehmen und Lessings Lärmverein beitreten, gewinnt dieser dort, wo wohl die höchste Lautstärke herrschte, nämlich „in den Industriezentren des Ruhrgebiets [...] praktisch keine Mitglieder.“⁵

„Lärm kommt von unten“, titelt daher ein Aufsatz zur Geschichte des Lärms und argumentiert, die „Geräusche der Mächtigen [seien] per definitionem kein Lärm“, während jene Mächtigen aber die Geräusche derer, die „in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen [...] nicht hinnehmen“⁵ und durchaus als Lärm betiteln dürften. Demnach sei „an der Lizenz zum Lärm abzulesen, wie die Macht in einer Gesellschaft verteilt ist.“⁵ Dies mag zwar auf die Lärmsituation um 1900 zutreffen, doch mit dem Wandel von der hierarchisch organisierten Monarchie hin zur Demokratie gerät jener Konnex von Lärm und Macht ins Wanken, wie ein Blick in das Berlin der 1970er Jahre zeigt.

Nachdem in Kanada bereits in den 1960er Jahren Überlegungen zur Lärmentwicklung der Ausgangspunkt für R. Murray Schafers Ideen zum Akustikdesign, einer „Sound Revolution“⁶ sowie der Grundstein der interdisziplinären Forschung im Bereich der Sound Studies waren, lernten sich in den Nachwehen der Studentenproteste der 68er sowie jener Atmosphäre der sich formierenden Umwelt-, Frauen-, Anti-Atomkraft- und Friedensbewegungen, die sich bis 1990 zur Parteigründung der Grünen verdichteten, in Berlin zwei moderne Lärmkämpfer kennen: Elfie Donnelly und Peter Lustig. Die junge Journalistin, die 1973 mit der ersten Hörspielfolge der Reihe Benjamin Blümchen in der Tasche von Wien nach Westberlin zog, und den damaligen Toningenieur vereint bald darauf nicht nur eine Heirat, sondern auch die Arbeit an verschiedenen Kinderserien über Radio, Fernsehen und Audio-Kassetten, wobei dem Thema Lärm eine teils zentrale Bedeutung zukommt. So ist der Auslöser, der den Moderator und Protagonist der Serie Löwenzahn in der allerersten Folge ‚Peter zieht um‘ veranlasst, in seinen berühmten blauen Bauwagen zu ziehen, ein lärmender Flughafen, der neben seinem alten Reihenhaus eröffnet wurde. Womit jene 1981 ausgestrahlte Folge vermutlich eine direkte Reaktion auf die Wiedereröffnung des Flughafens Tempelhof im selben Jahr war, die in einer Stadt, die für Umweltschutz und Mieterrechte protestierte, wohl auf einigen Widerstand stieß. Lärm kann damit gewissermaßen als Ursprung jener bis heute erfolgreichen Fernsehsendung betitelt werden.

Doch nicht nur in dieser Löwenzahnfolge werden über Kurzfilme die akustischen Folgen von Industrialisierung, Verkehrsaufkommen und Großstadtleben kritisch beleuchtet, bereits 1979 ist dies das titelgebende Thema von Donnellys Hörspielfolge ‚Benjamin Blümchen – Kampf dem Lärm‘. Eine laute Straße neben dem Neustädter Zoo hat hierin zur Folge, dass Mensch und Tier an Kopf- und Ohrenschmerzen leiden und psychisch strapaziert sind. Um dies zu verändern, zieht der dickhäutige Protagonist los, gewinnt die Menschen eines Altenheims und Kindergartens für sich und beginnt dann auf eben jener lauten Straße einen Sitzstreik, der letztendlich eine Verlegung des Verkehrs auf eine Umgehungsstraße zur Folge hat. Das Besondere an dieser Serie ist damit die neue Konstellation ihrer Akteure: Hier nehmen auf einmal die gesellschaftlichen Randgruppen, Alte und Kinder sowie Tiere, die Geräusche der durch die Machthaber, sprich den Bürgermeister, veranlassten Straße als Lärm wahr. Lärm kommt hier von oben, nicht, wie um 1900, von unten. Auch wird Lärm nicht mit Übertönung bekämpft, sondern mit einem Sitzstreik und damit einer stillen Protestart, der innerhalb der Folge sogar die Macht zugesprochen wird, Veränderung zu bewirken.

Auch heute, weitere 50 Jahre später, ist Lärm ein präsentes wie facettenreiches Thema: Anwohner sorgen sich vor einer Lärmbelästigung durch Adele ebenso wie durch Windräder, Tempolimits zur Reduktion von ‚Schallemission‘ werden gleichzeitig zur Installation künstlicher Geräusche in die ‚zu leisen‘ Elektroautos diskutiert, lärmende Schiffsschrauben lassen Wale stranden, und Klavier und Schlagzeug werden zum Schutz der Nachbarn mit Kopfhörern bespielt. Aufgrund dieser offensichtlichen und zeitgeschichtlich ungebrochenen Relevanz hat Lärm auch längst seinen Weg in die Kunst gefunden. Nicht nur bei Adele, sondern auch beim ‚Growling‘, jener heiser-grollenden Gesangstechnik des Metal, wird die rein subjektive Unterscheidung zwischen Lärm und lautem Geräusch, genauer zwischen Lärm und Musik, zum Diskussionsthema. Ist das noch Musik, oder ist das schon Lärm?, fragen sich die Zuhörer, doch wie die Antwort ausfällt, ist wohl einzig vom Geschmack des Hörenden abhängig. „So wie der Teufel, den Luther als ‚Afterbild Gottes‘ bezeichnet, genau die gleiche Wesens- und Machtqualität aufweist, die Gott selber besitzt, nur eine jede ins Negative gewendet“, schrieb Lessing einst hierzu, „[d]em [...] analog besitzt Musik ihr karikierendes ‚Afterbild‘: den Lärm“³. Doch ist Lärm tatsächlich der Antagonist der Musik? Kann Musik nicht auch Lärm, Lärm nicht auch Musik sein?

Dies beweisend, schickt der Komponist Karlheinz Stockhausen 1995 vier Helikopter samt einem auf diese verteilten Streichquartett sowie Tontechnikern und Kameraleuten in die Luft, um den Zuhörern im Hörsaal das aus einer Vermischung von Violine und Rotorbrummen bestehende Helikopter-Streichquartett zu Ohren zu führen. Und ganz, wie es mit Lärm so ist, fallen die Meinungen hierzu recht unterschiedlich aus, folgert doch einer von Stockhausens Kritikern aus jenem Schauspiel:

„Es mag der Tragik von Stockhausens Entwicklung gelten, daß die eigene Regression sich der zunehmenden Infantilisierung aller Kultur so lückenlos einschreibt, daß der Komponist selber sie umstandslos als Erfolgsgeschichte verbuchen kann. Wie sehr ästhetische Wahrnehmung dem Gaffen gewichen ist, war am Erfolg jenes Helikopter-Streichquartetts abzulesen, in dem Stockhausen die letzten Schamgrenzen gegenüber Disneyland fallen ließ [...].“⁷

Die Zeit gab dann doch eher Stockhausen recht, der seither als Pionier elektrischer Musik gilt und dem noch eine Vielzahl an Liaisons von Lärm und Musik folgten. So fuhr 2012 ein Taxi mit Aufnahmegeräten und Lautsprechern durch die Londoner Innenstadt, um den Straßenlärm via Umwandlungssoftware in Musik zu verwandeln, und gefeierte Musiker wie DJ Snake und Paul Kalkbrenner integrieren Geräusche wie das Starten einer U-Bahn in ihre Lieder. Nicht zuletzt wird die „Klage des Kettenhunds“³, die Lessing vor 100 Jahren noch Ohrenschmerzen bereitete, heute von vielen Menschen in ‚Who Let The Dogs Out‘ mittels Noise-Canceling-Kopfhörern genossen.

Die Geschichte des Lärms, so wird wohl deutlich, ist bei weitem noch nicht zu Ende geschrieben. Vermutlich erzählt sie uns auch in Zukunft weniger etwas über die Geräusche selbst als über die Eigentümlichkeiten und Präferenzen ihrer Hörer. Ausgehend von den vielen Kämpfern gegen den Lärm ließe sich sogar überlegen, ob es nicht erst dieser Kampf ist, der den Lärm zu Lärm werden lässt, denn wenn Lärm Beziehungssache ist, dann ist er auch eine Sache der Haltung. Und so soll diese kleine Geschichte des Lärms auch anregen, bei Lärmempfinden zunächst einmal die eigene Einstellung zur Störquelle zu überdenken, denn womöglich kann sich jener Lärm über ein offenes, neugieriges Zuhören ja sogar in Musik verwandeln.

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¹ Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig: Piper 1982, S. 5.

² aus: Simmel Georg: Die Grosstädte und das Geistesleben. In: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, 9 (1903), S. 185-206.

³ aus: Lessing, Theodor: Der Lärm. Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens. Wiesbaden: 1908.

⁴ aus: Seneca: Philosophische Schriften. Hg. und übers. von Otto Apelt. Wiesbaden 2004.

⁵ aus: Giesel, Sieglinde: Lärm. In: Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze. Hg. v. Daniel Morat u. Hansjakob Ziemer. Stuttgart: Metzler 2018, S. 199-204.

⁶ R. Murray Schafer: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Übersetzt und neu herausgegeben von Sabine Breitsamer. Berlin: Schott 2023, S. 39.

⁷ Boehmer, Konrad: Ab in die Wolken mit Knattern …. In: Neue Zeitschrift für Musik, 159.4 (1998), S. 46.

Quellen für Hörspiel und Serienfolge:

Donnelly, Elfie: Benjamin Bümchen. Kampf dem Lärm. Berlin: Kiddinx 1979.

TVKinderserien: Löwenzahn – Peter Lustig zieht um (Folge 1) online unter: https://www.youtube.com/watch?.... [letzter Zugriff am 22.09.2024]

Erwähnte Zeitungsartikel:

Geigenberger, Laura u. Salmen, Anna-Maria: Adele-Konzerte. Zwischen Schulterzucken über das „bisserl Lärm“ und Beschwerden. In: Süddeutsche Zeitung 22.08.2024. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/mu...„51%2C6%20Dezibel“%2C,den%20nahen%20Anwohnergebieten%20zu%20überprüfen. [letzter Zugriff am 22.09.2024]

Jupp, Emely: Sound Taxi: Making London sound better. In: Independent 21.09.2012. Online unter: https://www.independent.co.uk/.... [letzter Zugriff: 22.09.2024]