Was vor Jahren geplant, aber wegen Corona abgesagt werden musste, konnte beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nun endlich stattfinden: Die Aufführung von Bachs „Matthäuspassion“ unter der Leitung von Simon Rattle. Doch nicht wie üblich mit dem Chor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ begann der Abend, sondern mit den Schlussworten: „Wir setzen uns mit Tränen nieder“. Nur ein Häuflein versprengter Musiker und Choristen standen dazu auf der Bühne, angetan mit leuchtend gelben Westen. Sodann wurde klar, worum es sich handelte: Um eine Protestaktion der Musiker, die sich in zähen Verhandlungen befinden und eine deutliche Anhebung ihrer Bezüge fordern. Die Qualität des Orchesters wie die des Chores sei bedroht, schon jetzt besetzten Bewerber lieber die Positionen in anderen Klangkörpern mit besserer Bezahlung. Wollte man das Niveau halten, müsste man vergleichbare Löhne bieten wie in andere Spitzenorchester. Konkrete Zahlen wurden dabei nicht genannt, so dass schwer einzuschätzen war, wie berechtigt diese Forderungen sein mögen.
Dass jedoch unbedingt bewahrenswert ist, was Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks zu leisten im Stande sind, zeigte sich bei der folgenden Aufführung. Simon Rattle wählte durchaus zügige Tempi, und doch wirkte der Abend konzentriert, niemals gehetzt oder forciert. Zudem fügten sich die einzelnen Nummern zu einem großen erzählerischen Bogen, wobei die Rezitative intensiv gestaltet wurden. Mark Padmore, seit Jahren ein gefragter Evangelist, war in der Höhe zwar gelegentlich etwas angestrengt, aber letztlich kam dieser Eindruck seinem Ausdruck eher zugute als dass er ihm abträglich gewesen wäre, besonders bei der Schilderung von Jesu Tod. Georg Nigl sang diese Partie nicht abgeklärt und unberührbar vom Irdischen, sondern er zeigte Jesus als leidenden, verletzlichen Menschen, der seinen himmlischen Vater klagend und fragend anruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ungemein zart und anrührend wirkte danach der Einsatz des A-Capella-Chores mit der Bitte: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir!“ Klar und immer der Bedeutung des Textes folgend, gelang die Artikulation, makellos die Intonation bei einem warmen, sehr schönen Klang. Mehr kann man sich von einem Chor kaum erwarten. Die großen Arien verdankten ihre Qualität vor allem Camilla Tillings silbrig zartem Sopran, der perfekt mit Magdalena Koženás Mezzo-Stimme harmonierte. Sie blieb in der Tiefe etwas dünn, gestaltete dafür aber ausdrucksvoll. Auch Andrew Staples glückte mit metallischem, aber geschmeidigem Tenor eine intensive Ausformung seiner großen Arie „Ich will bei meinem Jesu wachen“. Demgegenüber wirkte der Bariton von Roderick Williams etwas blass. Zum musikalischen Höhepunkt wurde das Duett „So ist mein Jesu nun gefangen“, in welches der Chor immer wieder wuchtig einfällt „Laßt ihn, haltet, bindet nicht!“, in dem aber auch die Holzbläser mehr als nur begleitende Funktion haben. Bach erscheint hier als großer Dramatiker, was auch den starken Instrumentalsolisten zu danken war, die mit den Sängern in einen lebendigen Dialog traten. Wer diese Szene hört, wird bedauern, dass Bach nie die Gelegenheit hatte, eine Oper zu schreiben. Dabei blieb bei aller Dramatik der Klang des Orchesters unter Sir Simon Rattle immer leicht, transparent und agil. Doch bei aller Bewunderung für einen hervorragend musizierten Abend: Tiefe Beteiligung wollte sich nicht recht einstellen. Das mag an der persönlichen Verfassung des Hörers gelegen haben. Oder an Rattles Stil, der auch das Schwerste mit britischer Noblesse leichtnimmt.