Matthew Lopez´ Bühnenepos am Münchner Residenz Theater
Das Residenz Theater München spielt zum letzten Mal (in dieser Spielzeit?) Matthew Lopez´ Bühnenepos
München, 10. Juli 2022, Christian Gohlke

Wer sich die Spielpläne der großen deutschen Stadt- und Staatstheater anschaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Dramen werden auf unseren Bühnen nur noch selten gespielt, Klassiker so gut wie gar nicht mehr. Der überreiche Schatz dramatischer Literatur von A wie Aischylos bis Z wie Zuckmayer bleibt weitgehend ungenutzt. Vielleicht will den Regisseuren nach Jahren exzessiver Dekonstruktion und Ironisierung partout nichts Neues mehr einfallen. Ihre Kreativität scheinen sie nun vor allem beim Einrichten von Romanen oder Filmen für die Bühne zu erproben.

Auf den ersten Blick passt „Das Vermächtnis“ durchaus in dieses Schema – ist aber doch ganz anders. Denn Matthew Lopez´ Stück, das 2019 in London uraufgeführt und im Januar 2022 zum ersten Mal in Deutschland gespielt wurde, greift zwar auf einzelne Elemente aus E.M. Forsters Roman „Howards End“ (1910) zurück. Die Geschichte aber, die Lopez erzählt, geht doch ganz anders und thematisiert die Frage nach den Möglichkeiten des Erzählens selbst.

Eine gruppe junger Männer, alle schwarz gekleidet, sitzt zu Beginn auf der Bühne, die durch schwarze Backsteinmauern und „Exit“-Schilder explizit als Bühne ausgewiesen ist. Sie ringen an ihren Laptops oder Notizbüchern mit Worten, wollen offensichtlich eine Geschichte erzählen, ohne aber den Einstieg zu finden. Da betritt ein freundlicher britischer Gentleman im Trenchcoat die Szene. Er heißt Morgan (wie Forster) und kommt den jungen Leuten als Mentor zur Hilfe. Und nun werden Geschichten ausprobiert, Anfänge werden gesucht, gefunden, verworfen, neu erfunden. Im Hintergrund öffnet sich ein leuchtendes Quadrat und gibt den Blick frei auf wechselnde, jeweils realistisch ausgestattete Szenerien. Aus dem namenlosen Erzählerkollektiv treten die Protagonisten hervor, die fortan im Zentrum einer Geschichte stehen werden, die sich über mehrere Jahre hin erstreckt. Sie ließe sich auch anders erzählen, ist nur eine Variante unzähliger Formen, die sie annehmen könnte. Dabei verkörpern die Schauspieler nicht nur eine bestimmte Rolle. Sie kommentieren als Erzähler auch ihr eigenes Tun und erläutern ihren Charakter. Epische und dramatische Elemente verschränken sich auf diese Art; zurecht wurde Matthew Lopez´ „Vermächtnis“ als „Bühnenepos“ bezeichnet.

Im Zentrum der weitausgreifenden Geschichte (die Aufführung beider Teile dauert gut sieben Stunden) stehen Eric Glass und dessen Partner Toby Darling, aber auch ihr buntscheckiger Freundeskreis in der Gay-Community New Yorks vor und nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Das Stück entwirft psychologisch genau gezeichnete Charaktere und beobachtet sie bei ihren Handlungen. Dass dieser Ansatz über viele Stunden trägt, ist vor allem den Schauspielern zu danken, die ihre Figuren (meistens) zu facettenreichen und interessanten Menschen aus Fleisch und Blut werden lassen.

Thiemo Strutzenberger zum Beispiel spricht als Eric in einem Duktus, der so verwaschen ist wie die weichen Wollpullis, die er gerne trägt, und gibt einen sanften und stets hilfsbereiten Freund, der allerdings scharfzüngig urteilen und blutig verletzen kann. Der Streit mit Toby lässt nicht lange auf sich warten. Denn der egozentrische Jung-Autor, dessen verlogene Memoiren zum Hit am Broadway werden, tut sich schwer damit, echte Nähe zuzulassen. Moritz von Treuenfels zeigt ihn als vergnügungssüchtigen und zugleich haltlosen Menschen, der die Wunden seiner Kindheit durch Exzesse und Partys zu überdecken sucht. In heillose Schieflage gerät das Verhältnis zwischen Toby und Eric (die Hochzeit ist schon geplant), als Adam, ein junger College-Absolvent aus bestem Hause, in ihr Leben tritt und es schafft, die Hauptrolle in Toby Darlings Stück zu ergattern. Seinetwegen verlässt Toby seinen Verlobten – ohne zu wissen, dass Adam längst mit einem anderen liiert ist. Doch Leon, ein neunzehnjähriger Strichjunge, ist ihm zum Verwechseln ähnlich, und so ergibt sich eine erst kommerzielle, dann auch erotische Beziehung zwischen den beiden. Mit faszinierender Wandlungsfähigkeit spielt Vincent zur Linden diese Doppelrolle und portraitiert mit eindringlichen Gesten und präzise unterschiedener Sprache zwei junge Männer, die in völlig unterschiedlichen Welten zu Hause sind. Und dann ist da noch der schon etwas ältere Walter (Michael Goldbeck). Weil Eric sich mit ihm angefreundet hat, hinterlässt er ihm ein Haus (das titelgebende Vermächtnis), in dem er in den 1980er Jahren an Aids erkrankten Freunden ein würdevolles Sterben ermöglichen wollte. Jahre später bekommt Eric dieses Haus tatsächlich und setzt fort, was Walter begann. Nicole Heesters erzählt ihm als zugleich zupackende und verletzliche Margaret in einer bewegenden, großartig gespielten Szene aus den alten Tagen, vor allem aber von ihrem Sohn, der, von der eigenen Mutter seiner Veranlagung wegen gemieden, selbst zu jenen gehörte, die hier ein freundliches Ende fanden. Im Erzählen wird die Erinnerung bewahrt. An ihn, aber auch an alle, denen es ähnlich erging. Auch dies ein Vermächtnis.

Dieser von Philipp Stölzl gekonnt inszenierte Abend unterscheidet sich wohltuend von zahllosen anderen. Er will weder dekonstruieren noch belehren. Stattdessen erzählt er spannend, witzig und anrührend von psychologisch differenzierten Charakteren. Vor allem aber: Er scheut nicht die großen Gefühle, hat Mut zum Pathos. So ähnelt das „Vermächtnis“ in seiner thematischen Fülle und emotionalen Reichhaltigkeit eher einer gut gemachten Netflix-Serie als einem typischen deutschen Theaterabend. Für Schauspieler und Publikum ist das ein Glück.