Mehr Trash als Eurotrash
Christian Krachts Eurotrash an den Bühnen Bern
Bern, 2. April 2024, Bernhard Metz

Christian Krachts Eurotrash (2021), autofiktionaler Abschluss eines Werks, das seit 1995 die deutschsprachige Gegenwartsliteratur prägt, ist das Motherland-Komplement zum Faserland-Romandebüt. Es gab bereits ein vom Autor aufgelesenes Audiobook; ein SWR/HR-Hörspiel; Eurotrash-Theateradaptionen u.a. in Berlin (Schaubühne, Premiere 18. November 2021), Hamburg (Thalia, Premiere 27. November 2021), Wien (Akademietheater/Burgtheater, Premiere 29. April 2022). Ist die „Schweizer Erstaufführung“ (Bühnen Bern, Premiere 16. Dezember 2023, Dernière 2. April 2024) brandaktuell oder verspätet?

Vanessa Bärtsch, Jeanne Devos, Jonathan Loosli spielen unter Kultregisseur Armin Petras kammerspiel­artig, reduziert. Temporeich agierende Körper, schneller Sprechtext. Schneeweiße Styropor-Bühne (Patricia Talacko), grelles Licht (Hanspeter Liechti), laute Musik (Miles Perkin). Eurotrash erleichtert dramatische Umsetzungen: viel Dialog, wenig Handlung, kaum Ortswechsel, drei Tage „im Herbst“. Icherzähler samt Mutter, letztere „sehr krank, das heißt krank auch im Kopf“: „Mama mit der Betonung auf dem zweiten A, Mama, wir werden jetzt zusammen auf eine Reise gehen, wir zwei“.

Die tablettenabhängige (Zolpidem, Phenobarbital, Quetiapin) Alkoholikerin (Wodka, Fendant du Valais), ohne Rollator kaum bewegungsfähig, muss aufgrund künstlichen Darmausgangs in Stomabeutel ausscheiden, was sie sonst zu sich nimmt (Toastbrot, Scheiblettenkäse, Fertiggerichte). Stellt sich mitunter tot, früherlernte Überlebensstrategie, als Elfjährige wurde sie sexuell missbraucht. Anders als Claire Zachanassian (auch Dürrenmatts Physiker werden aufgerufen, zudem „Kinderschänder Gert Fröbe“ aus Es geschah am hellichten Tag) verfolgt Krachts alte Dame („dreizehn oder vierzehn Millionen Franken, hauptsächlich in deutsche Waffensysteme und schweizerische Molkereien angelegt“) keine großen Ziele mehr, Endstation eine Winterthurer „Sterbeklinik“.

Dorthin wurde sie „zwangseingeliefert“, weil „kein Krankenhaus im Kanton Zürich sie mehr hatte aufnehmen wollen“. Das Gesicht der dementen Millionärin ist von Sturzwunden und Hämatomen gezeichnet. Bemitleidenswerte (Wohlstands-)Verwahrlosung, trotz Diamantenschmucks, Ferragamo-Kaschmirpullovern oder Bulgari-Sonnenbrillen: „Ich bin mit ihr also auf eine Reise gegangen, es würde wohl ihre letzte sein, hatte ich gedacht.“ Per Taxi ins Saanenland, über Morges, Genf zurück in die geschlossene Psychiatrie. Mutter und Sohn wollen neben Familiengeschichte und Vergangenheit belastende Reichtümer „richtig verschenken, loswerden, verschleudern. An irgendwelche Menschen, ganz zufällig.“

Fortan wird mit Geld herumgeschmissen, um „gute Menschen kennenzulernen und ihnen unser ehrloses, von Waffenfabriken erschwindeltes Geld zu schenken“. Familiengeheimnisse, Erbkrankheiten und Erbstücke, verlorene Weltkriege (bzw. solche, an denen nie teilgenommen wurde), Schuld, Reisen im „endlosen Kaninchenbau der Erinnerung“. Durch schweizerische Städte und Häuser, die „nie zerstört worden waren im Zweiten Weltkrieg“, während in Deutschland „das Blut der ermordeten Juden immer noch überall in den Gassen klebte“.

Statt Mutter und Sohn als tragi(komi)sches Bühnenpaar zu besetzen, rotieren in Bern Rollen und Stimmen: Bärtsch, Devos und Loosli spielen Mutter und Sohn/Erzähler und Nebenfiguren, oft gleichzeitig. Deklamieren Dialogreden, verstärken „Lüge“, „Blut“, „Phenobarbital“. Bisherige Eurotrash-Inszenierungen beließen es bei zwei Personen; so tadellos Loosli und Bärtsch spielen, Devos’ Mama-Darstellung erreichen sie nie. Die postdramatische Marotte der Rollenverflüssigung mitsamt Fiktionsbrüchen („dass sie – also ich – vergewaltigt wurde“) unterminiert die verhandelten Thematiken. Alles wird relativiert, Theaterspielen als solches selbstironisch ausgestellt: „Obwohl jetzt dramaturgisch gesehen der Moment wäre…“

Dabei ist Eurotrash dankbarer Theaterstoff, Simulieren, Markieren, die Sehnsucht danach, jemand anderes, besseres zu sein, ubiquitär. Alle fingieren, spielen Rollen, „dieses Leben, was für ein perfides, elendes, kümmerliches Dramolett es doch war“. Hat Mama lichte Momente, in ihrem Zustand keine Selbstverständlichkeit, sitzen ihre angelesenen Klassiker-Zitate. Rhetorische Gemeinheiten, tragisch fundiert. „‚Du meinst, ich wüßte nicht, was Du Dir von dieser Reise versprichst? […] Katharsis hast Du gesagt, es werde zu einer Läuterung zwischen uns beiden kommen".

Dysfunktionale Familie, komplizierte Mutter–Sohn-Beziehung: „Sie hatte ja in allem recht, […] es war alles nur Bluff, aber es war so dermaßen gut geschauspielt, daß ich immer und immer wieder drauf hereinfiel.“ Krachts Mutterland-Roman vermengt Realismus und autofiktionales Erzählen. Icherzähler „Christian Kracht“ hatte „vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben […], Faserland genannt“.

Mehr als bei Erscheinen von Eurotrash ist Kritik an schweizerischer Finanzpolitik, Neutralität, Verschwiegenheit, Rüstungsindustrie aktuell unvermeidbar. Die sichtbarere Rechtslastigkeit spiegelt Krachts Dystopien, deutsches Unheil als schweizerische Verdrängungsgeschichte: „‚So sind sie, die Schweizer […,] gehen Problemen aus dem Weg. Nicht weil sie ihr Gesicht nicht verlieren wollen, sondern weil sie unpassend sind, die Probleme.‘ ‚Aber wir sind doch auch Schweizer.‘“ Vergangenheit mit Naziverwandtschaft, schmuddeligen Familiengeheimnissen, traumatisierenden Gewalterfahrungen als deutsch-schweizerische Belastungsprobe.

In Bern wird daraus zu wenig gemacht. Die Eurotrash-Bearbeitung von Hausdramaturgin Felicitas Zürcher dauert knappe 100 Minuten (viereinhalb Stunden Krachts Hörbuchauflesung), betont Komödiantisches. Ernst und Tragik gehen verloren. Stattdessen Nonsens-Texte, über goldrauchende Zebras, die in die Schweiz einfallen und plattgefahren als Zebrastreifen enden. Petras hat gemeinhin ein Gespür, Stoffe zu aktualisieren, akut zu machen, sein Publikum anzufassen. Hier nicht. Trotz bezaubernder Einfälle, wenn etwa zu David Bowies Space Oddity ein Rollatorwettschieben in Slowmotion inszeniert wird.

Explizit thematisierte Musik, Nat King Coles Perfidia oder Lazarus aus Bowies Vermächtnis-Album Blackstar, wird verschenkt, stattdessen mehrmals Iggy Pops Lust for Life eingespielt, verschnitten mit Wagners Walküre. Sogar wenn Bärtsch Je ne regrette rien trällert, von Devos und Loosli auf Blasinstrumenten begleitet, rührt nichts. Spaß statt Betroffenheit, es wird durch die Sitzplatzreihen gelaufen und herumgeblödelt, ein Zuschauer hinter der Bühne ‚verführt‘— von einer pflegebedürftigen Dementen, „schon weit über achtzig“. Themen wie Altern, Krankheit, Pflege, Sterben, assistierter Suizid, politische Radikalisierung, Nationalismus, Verteilungs­gerechtigkeit, privilegierte Lebens­stile, Verantwortung, auch Heilung, Vergebung, Erlösung, finden sich allesamt in Eurotrash, werden dem flott-lustigen Inszenierungstempo aufgeopfert.

Es gibt ausgearbeitete Choreographien (Berit Jentzsch). Die Bühnenerhebung, zwischen White Cube und Bergmassiv wie Antikenstücke der 1950er, als würde Anouilh Hölderlin inszenieren, wird als Schlittenberg, Höhenwanderweg, Rampe bestiegen, hoch­gestürmt, heruntergekugelt. Die Action stimmt, aber läuft leer.

Einer der spannendsten Theatermacher seiner Generation vermasselt’s. Tiefreichende Schweizkritik wird weggelassen, die tragische Mutter–Sohn-Beziehung verschenkt. Keinerlei kathartische Läuterung.