Ein imaginärer Sommerausflug mit dem armen Bertolt Brecht
Ein imaginärer Sommerausflug mit dem armen B.B.
München, 18. August 2021, Lena Wittland

Kaum etwas treibt die junge Generation mehr um, als die Frage, wie der Mensch nachhaltig in seiner Umwelt leben kann. Regenwaldzerstörung und Klimawandel sind in aller Munde, tagtäglich wird über die Natur geredet, nachgedacht und versucht, neue Ideen für ein ressourcenschonendes Leben zu finden. Doch nicht nur um sich eine stabile Basis für das materielle Wirtschaften zu erhalten, interessieren sich die Millennials für die Umwelt – schließlich werden diese Jahrgänge nicht umsonst auch als die „Generation Why“ bezeichnet. Die Fragensteller suchen auch tieferen Sinn und Halt in der Natur. Über Outdoor-Yoga, Trailrunning, Steinzeitdiät und anderes wird versucht, ihm nahzukommen, und gleichsam im Sekundentakt entstehen neue Trends und Anleitungen hierzu.

Doch halten wir mal einen Moment inne und wagen einen Blick in auf die Literatur des beginnenden 20. Jahrhundert. Vielleicht mag es im ersten Moment verwundern, ist Bertolt Brecht doch eher als Dramatiker und politischer Literat bekannt. Doch seine Naturlyrik hält eine in vielerlei Hinsicht spannende Perspektive auf aktuelle Themen bereit. Ein guter Grund, ganz im Sinne der Generation Why, diese Gedichte einmal in fragender Haltung unter die Lupe zu nehmen. Was sagt uns Brecht über die Beziehung von Mensch und Natur? Hält er vielleicht sogar eine fruchtbare Perspektive auf die aktuelle Problemlage bereit? Und kann er, darüberhinausgehend, auch tieferen Sinnfragen aktuelle Ideen entgegenbringen?

Beginnen wir unseren literarischen Exkurs ganz allgemein: Wem kommen beim Begriff der Naturlyrik nicht allen voran Eichendorffs Mondnacht oder Werke des Sturm und Drang in den Sinn, welche sich in einem gleichen: Hier wird kunstvoll über die Schönheit der Natur geschrieben. Das genießende, gerührte lyrische Ich erfährt beim Anblick der nächtlichen Landschaft eine tiefe Einheit mit seiner Umwelt. Inhalt und Form dieser Lyrik greifen ineinander und transportieren die reine, unbefleckte Ästhetik, sodass beim Lesen vor unseren Augen ein buntes, paradiesisches Bild entsteht.

Brechts Naturlyrik scheint auf den ersten Blick im Kontrast hierzu zu stehen, wählt er doch einen völlig anderen Zugang zum Thema: „Gebrauchslyrik“ heißt das Zauberwort. Schon auf den ersten Seiten seiner Gedichtsammlung „Hauspostille“ (1927) teilt der Autor dem Leser mit, dass diese Gedichte nicht bloß „sinnlos hineingefressen werden“ sollen. Stattdessen soll der Leser in ihnen „Aufschluß über das Leben“ gewinnen. Statt zu passivem Konsum einzuladen, wollen Brechts Texte Aktion vermitteln. Und so wundert es nicht, dass einige beinah den Charakter einer Anleitung haben, wobei das lyrische Ich, statt vor den Augen des Lesers ein hübsches Bild zu entwerfen, gleichsam die Hand ausstreckt und ihn zur Selbsterfahrung einlädt. Folgen wir also dieser Aufforderung und begeben uns auf einen imaginären Sommerausflug mit Bertold Brecht zum Schwimmen in Seen und Flüssen:

„Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben

Nur in dem Laub der großen Bäume sausen

Muß man in Flüssen liegen oder Teichen

Wie die Gewächse, worin Hechte hausen.“

So heißt es in den ersten Zeilen des gleichnamigen Gedichts Vom Schwimmen in Seen und Flüssen. Von wegen romantische Naturerfahrung, weder hübscher Waldsee noch klar sprudelnder Flusslauf, stattdessen: wie ein Gewächs in hechtdurchschwommenen Tümpeln liegen. Und nicht nur, dass man bei diesem Badeausflug auf einen urigen Fisch treffen könnte, das Naturerlebnis geht noch einen Schritt weiter:

„Der Schlamm ist warm. Wenn kühle Blasen quellen

Weiß man: Ein Fisch ist jetzt durch uns geschwommen.“

Natur, das scheint in Brechts Gedichten eben nicht nur das Idyllische und Schöne zu sein, bei dessen genüsslicher Betrachtung man von einem paradiesähnlichen Zusammenleben des Menschen mit seiner Umwelt zu träumen beginnt. Er betont geradewegs auch die ungemütliche, die ekelige, kalte Seite der Natur, wenn er von bleichem Haifischhimmel, warmem Schlamm und reißenden Flüssen spricht. An dieser Stelle könnte man die hier eröffnete Perspektive als unangenehm wahrnehmen, aber auch als ehrlicher, als ganzheitlicher. Eigentlich entspricht dieses Bild der Natur doch ganz unserem heutigen Erfahrungsschatz: Der Fluss ist eben nicht nur Urlaubsort zum Schwimmen und Paddeln, er kann auch Flut und Überschwemmung bedeuten. Brecht zeigt nicht nur Naturidyll, sondern weist im gleichen Satz auch auf die Naturgewalt hin.

Nicht nur unsere Erwartung eines malerischen Gewässers wird nicht erfüllt; auch das im Titel angekündigte Schwimmen stellt sich anders dar als gedacht:

„Natürlich muß man auf dem Rücken liegen

So wie gewöhnlich. Und sich treiben lassen.

Man muß nicht schwimmen, nein, nur so tun, als

Gehöre man einfach zu Schottermassen.“

Halten wir fest: Wir wurden vom Titel zum Schwimmen eingeladen und bekommen nun ausdrücklich gesagt, wir sollen stattdessen steinähnlich rücklings liegen. Warum das? Was soll dieser sonderbare Ausflug bringen? Das Problem der Entwurzelung, des modernen Sich-losgelöst-Fühlens von der Natur wird hier ganz ungewöhnlich angegangen: Von Fischen durchschwommen, Gewächsen und Schottermassen nachsinnend, wird die oft schmerzlich als unüberwindbar wahrgenommene Grenze zwischen Natur und Mensch geradewegs durchbrochen. Brechts Lyrik leitet nicht an, als Mensch Natur zu erfahren im Sinne eines Subjekts, das ein von ihm unterschiedenes Objekt wahrnimmt, nein, hier geht es um eine Entgrenzung zwischen beiden Seiten. Wo Mensch aufhört und wo Natur anfängt, das lässt sich im Zuge dieses Prozesses nicht mehr so genau sagen. So stellen wir fest, dass in ihrem Zielpunkt, der Einheitserfahrung mit der Natur, die Lyrik der Stürmer und Dränger oder der Romantiker und die Brechts einen gemeinsamen Nenner zu finden scheinen, wenn sie sich auch von zwei entgegengesetzten Richtungen her nähern. Brecht geht sogar noch einen Schritt über die Einheitserfahrung hinaus und deutet an, welchen Mehrwert diese bietet:

„Nur wenn die Fische durch uns schwimmen

Fühl ich, daß Sonne überm Tümpel scheint.“

Hier ist also nicht nur die Grenze zwischen Fisch und Badendem wortwörtlich „verschwommen“, auch die Grenze zwischen „ich“ und „uns“ scheint aufgelöst zu sein. Das Gedicht saugt den Lesenden also förmlich ein, die Entgrenzung geschieht nicht nur innerhalb der erzählten Welt, auch die Grenze zwischen der lyrischen Fiktion und der Realität des Lesers wird durchbrochen. Ein weiteres Element, um den passiven Kunstkonsum zu überwinden und zur Handlung anzuregen und auch darum aktuell: Ist es nicht ein zentraler Aspekt der Umweltdebatten, Betroffenheit so zu vermitteln, dass zur Handlung inspiriert wird? Brecht weist mit seiner Lyrik auf die Bedeutung des Mitfühlens hin. Genau darum ist es wichtig, dass hier nicht selbstversunken Bahn um Bahn gekrault wird. Erst im tiefen Sich-Einlassen auf die Natur, im aktionslosen Liegen im Fluss, nimmt das lyrische Ich das bewegte Treiben vollends wahr. Es braucht dieses sinnende Innehalten, um das Andere und die Verbundenheit mit ihm zu spüren. Brecht zeigt in diesem Gedicht den Wert von Entschleunigung und Achtsamkeit und gibt sogar einen Ausblick darauf, was sich dem Sinnenden eröffnet, wenn er sich hierauf einlässt: Auf das Sich-einig-Fühlen mit der Umwelt folgt das Spüren der wärmenden Sonnenstrahlen. Ganz wie eine zwingende Notwendigkeit mit einem konditionalen „wenn…dann“ verknüpft, spricht aus dieser Darstellung ein tieferer Einblick in den wahren Wert der Verbundenheit und des Mitfühlens mit der Welt: Sie erscheint hier als Tor zur Wärme, mittels derer die trennende, kalte Rationalität in den Hintergrund rückt und stattdessen ein sinnendes, warmes Fühlen tritt. Jenes Gefühl von Geborgenheit kommt im Gedicht ebenfalls auf ganz besondere Weise zur Sprache, indem dazu aufgefordert wird:

„Man soll den Himmel anschauen und so tun

Als ob einen ein Weib trägt und es stimmt.

Ganz ohne großen Umtrieb, wie der liebe Gott tut

Wenn er am Abend noch in seinen Flüssen schwimmt.“

Hier hat der Mensch also seinen Ursprung gefunden: Wie das Baby im Mutterleib, liegt er in gelöster Verbundenheit in der Natur, allein und doch all-eins. Eins mit allem. Und es ist wohl gerade im Hinblick auf dieses Gefühl wichtig, dass die Natur mit ihren guten und schlechten Aspekten gezeigt wurde, denn nur so kann der Mensch, sich in all seinen geliebten und ungeliebten Eigenschaften angenommen fühlen, ganz entspannen. Vom Schwimmen in Seen und Flüssen regt an, auch hässliche Aspekte als essenzielle Puzzelteile unserer Welt und unseres Selbst wert zu schätzen und die wahre Schönheit in der Ganzheit zu sehen, denn genau an dieser Stelle lässt sich das Göttliche erfahren. Zu diesem Begriff sei angemerkt, dass hierin nicht zwingend eine feste religiöse Vorstellung zutage tritt. Brecht wuchs zwar christlich auf, wandte sich im Laufe seines Lebens aber von diesem Glauben ab, vielmehr eröffnet sich hier eine rein erfahrungsbasierte, vielleicht spirituelle Antwort auf das Streben der Sinnsucher.

Was lässt sich Brechts Gedicht Vom Schwimmen in Seen und Flüssen über das Verhältnis von Mensch und Natur also entnehmen? Und wie lässt sich dies auf die die aktuelle Situation im Jahr 2021 beziehen? Eindeutig wird hier das Problem der Abgespaltenheit des Menschen von seiner Umwelt angegangen. Die Lösung, die wir hier vorfinden, ist dabei keine, die Anstrengung erfordert, im Gegenteil: Das Gedicht fordert auf, sich fallen zu lassen, in den Schoß der Natur, wahrzunehmen und mitzufühlen mit dem Leben um uns. Dadurch stellt sich eine ganz entscheidende neue Erfahrung ein: Was wir stets als Umwelt bezeichnen, ist vielmehr unsere „Mit-Welt“, die in ganz essenzieller und enger Verbundenheit zu unserem Leben steht. Wir und die Welt sind geradezu in einer symbiontischen Abhängigkeit, eben wie Mutter und Kind. Lässt sich die Umweltproblematik vielleicht durch die Erkenntnis besser verstehen, dass wir unsere Mit-Welt heutzutage als Um-Welt wahrnehmen?

Zweitens lädt das Gedicht zu einer Reflektion ein, wie Zeitmangel, selbstbezogenes Streben und psychische Dauerbelastung mit der beklemmenden Situation der Natur zusammenhängen. Liegen die Wurzeln der Umweltkrise vielleicht in einer „Inweltkrise“, einer dementsprechenden Problematik und Abgespaltenheit in unserer inneren Welt? Wären Fortschritte darin, die eigenen Grenzen, zum Beispiel in der zeitlichen Belastung durch Job oder Studium, zu erkennen und für sie einzustehen, Fortschritte in der Selbstakzeptanz, in der Achtsamkeit nach Innen und nach Außen und nicht zuletzt auch im mitfühlenden Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht gleichermaßen Fortschritte hin zu einem nachhaltigeren Umgang mit unserer Welt? Zu diesen wie ich finde brandaktuellen und absolut bedenkenswerten Fragen regt Brechts Gedicht an, und obwohl es schon fast 100 Jahre alt ist, scheint sein Ansatz vielleicht gerade für uns Millennials, uns Fragensteller und Lösungssucher, noch längst nicht an Fruchtbarkeit verloren zu haben.

Zuletzt wirft das betrachtete Gedicht auch ein neues Licht auf die generationsübergreifend stets aktuelle Frage nach Sinn und Erfüllung im Leben. Auch hier scheint die Lektüre Brechts keineswegs ein ausgelutschter Drops zu sein, schließlich ist die Selbsterfahrung und das Erkennen des Göttlichen in sich selbst ein zeitgemäßer Zugang hierzu. Gleicht das achtsame, sinnende Liegen in der Natur bis zur Überwindung der eigenen Grenzen nicht einer tiefen Meditation? Und ähnelt der Einklang von Schönheit und Hässlichkeit nicht dem, was wir auch als Ying und Yang finden? Gerade weil Brecht sich kein explizit religiöses Bild zur Folie nimmt, sondern für jedermann zugängliche Aspekte und Lebenserfahrungen aufgreift, wirkt seine Auseinandersetzung an dieser Stelle angemessen offenen für unser heutiges Denken und dabei keineswegs romantisch verklärt, sondern so ehrlich und unverblümt, dass man sich leicht davon inspirieren lassen kann.

Es muss ja nicht gleich ein hechtdurchschwommenes Schlammbad bis zur völligen Selbstauflösung sein, aber einen entspannten Sommertag damit zu verbringen, Brechts Lyrik nach den von ihm angekündigten „verborgenen Sprüchen sowie unmittelbaren Hinweisen“ zu durchforschen, scheint mir eine wunderbare Alternative.