Als Puccinis „La bohème“ ein Jahr nach der Uraufführung zum ersten Mal in Wien gespielt wurde (das war 1897), empörte sich Eduard Hanslick über das neue Stück, weil der Komponist darin „den letzten Schritt zur nackten prosaischen Liederlichkeit unserer Tage“ vollzogen habe. Er wetterte gegen die „Helden in großkarierten Beinkleidern, schreienden Kravatten und zerknüllten Filzhüte“, weil er darin einen „Bruch mit den letzten romantischen und malerischen Traditionen der Oper“ sah. War dem strengen Hanslick die Szenerie – das Stück spielt im ärmlichen Künstlermilieu von Paris in den 1830er Jahren – allzu prosaisch, so störten sich andere wiederum am Melodienreichtum, mit dem Puccini die schlimme Geschichte von Rodolfo und Mimi erzählt: süßlich, kitschig, ja verlogen sei diese Musik. Weder der eine noch der andere Vorwurf verhinderten den Erfolg dieser Oper. Sie gehört zu den meistgespielten Werken des sehr kleinen Repertoires, das die Spielpläne der Musiktheater in aller Welt ausmacht.
Es ist ein Glück, dass sich bei der Bayerischen Staatsoper die alte Inszenierung von Otto Schenk, der Anfang Januar mit 94 Jahren in Wien verstarb, bis heute erhalten hat. Es sind ja nicht nur die schönen Kulissen und die detailreichen Kostüme von Rudolf Heinrich, die noch immer begeistern. Offenbar wird diese Produktion vom Nationaltheater liebevoll gepflegt und immer wieder sorgfältig neu einstudiert. Munter entfaltete sich so das trotz Armut übermütige Leben der Studenten in ihrer dürftigen Mansarde über den Dächern von Paris. Mattia Oliviera glänzte mit einem starken, sicher geführten und wohlklingenden Bariton als Marcello; William Thomas gab mit charaktervollem und profundem Bass den Philosophen Colline, und Andrew Hamilton einen eindrucksvollen Schaunard. Den drei jungen Sängern, stimmlich und darstellerisch höchst präsent, konnte man den jugendlichen Gefühlsübermut ohne weiteres glauben. Fast etwas zu zart wirkte inmitten dieser kraftvollen Runde anfangs Pene Pati als Rudolfo, wobei sein lyrisches Timbre und die Feinheit seiner Rollengestaltung durchaus für ihn einnahm. Problematisch war eher, dass sich zwischen ihm und Angel Blue als Mimi keine rechte szenische Spannung entwickeln wollte, obwohl beide Stimmen durchaus gut harmonierten. Angel Blue konnte ihren gelegentlich zur Schärfe neigenden Sopran wunderbar aufblühen lassen, aber als Mimi wäre eine weichere, süßere Stimme vielleicht passender besetzt, auch im Kontrast zum hohen Sopran der Musetta. Andrea Carroll hat in dieser Rolle vor dem Café Momus, wo die Künstlerfreunde gemeinsam mit Mimi ihren Weihnachtsabend verbringen, ihren großen, exzentrischen Auftritt. Nicht nur schikaniert sie mit ihren Kaprizen ihren reichen Galan Alcindoro (Martin Snell), sie peinigt überdies den armen Marcello, der sie noch immer liebt.
Mit dem bunten Treiben im nächtlichen Quartier Latin kontrastiert die Ausstattung des dritten Bildes scharf. Im trüben Licht des frühen Morgens fällt der Schnee auf entlaubte Bäume, ein Wirtshaus ist angedeutet, ebenso ein Zaun mit Wachtposten an der Barrière d’Enfer, einer der Zollschranken von Paris. Carlo Rizzi zeichnet mit dem wachen, satt und schön klingenden Staatsorchester die eisige Atmosphäre einer frühen Morgenstunde, wie insgesamt sein Dirigat bei eher raschen Tempi atmosphärisch dicht gelingt und vor großem Pathos nicht zurückschreckt. Ganz leise und bescheiden verstirbt Mimi. Dann, als Rudolfo bemerkt, was geschieht, schlägt das unheilvolle Streichertremolo um in scharfe Dissonanzen. Der Vorhang fällt rasch. Das Publikum dankt mit starkem Applaus.