Seitdem bei den Salzburger Festspielen auch Musik geboten wird – dies ist seit 1922 der Fall –, sind die Wiener Philharmoniker ein integraler Bestandteil des luxuriösesten Festivals der Welt. Die Beziehung zwischen dem Orchester und den Festspielen war spannungsvoll, aber bis heute garantieren die Musiker aus Wien höchste musikalische Qualität. Sie sind aus Salzburg nicht wegzudenken – weder als Opern- noch als Konzertorchester. Die meist fünf unterschiedlichen Programme, die das Orchester mit wichtigen Dirigenten unserer Zeit bietet, bilden so etwas wie das musikalische Rückgrat der Kunstspiele an der Salzach. Die Konzerte Nr. 3 und 4 waren in diesem Sommer zentralen und gewichtigen Werken der Konzertliteratur gewidmet, die überdies spirituelle Tiefe und Sinnsuche miteinander verbindet: Gustav Mahlers Dritter Symphonie und Beethovens „Missa solemnis“.
„Symphonie heißt mir eben“, sagte Gustav Mahler einmal, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“. Dieses Anliegen wird gerade in seiner riesenhaften, 1902 uraufgeführten dritten Symphonie besonders deutlich. In ihr trifft eine Fülle unterschiedlichster, oft hart miteinander kontrastierender musikalischer Idiome aufeinander. Krachende Militärmusik und einfache Tanzmelodien, mythische Tiefe und schlichter Kinderliedton begegnen einander. Das Anliegen ist klar: Wie der effektbewusste Theaterdirektor in Goethes „Faust“ „im engen Bretterhaus / den ganzen Kreis der Schöpfung“ ausgeschritten sehen möchte, so will Mahler in seiner Dritten einen klingenden Kosmos erschaffen. Nicht umsonst trugen die sechs Sätze ursprünglich programmatische Titel: „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“ stand da einmal oder „Was mir der Mensch erzählt“ oder (über dem Adagio) „Was mir die Liebe erzählt“.
Wie überzeugend eine Aufführung dieser Symphonie gelingt, hängt darum nicht zuletzt von der Fähigkeit des Dirigenten ab, die starken Kontraste möglichst klar und effektvoll herauszuarbeiten, dabei aber ein Zerfallen des sinfonischen Gewebes in disparate Einzelheiten zu vermeiden. Ob dies Andris Nelsons bei seinem Konzert am 7. August im Großen Festspielhaus restlos überzeugend glückte? Eine noch stärkere Akzentuierung der Kontraste wäre wohl denkbar gewesen.
Der überdimensionierte Kopfsatz zum Beispiel (mit „Kräftig. Entschieden“ überschrieben) blieb eher spannungslos; ihm fehlte es ein wenig am musikantischen Überschwang, der bei Mahler aber gerade hier nicht fehlen darf. Der folgende zweite Satz („Tempo di Menuetto“) blieb dann zu erdenschwer. Leichter, tänzerischer müsste das klingen. Dafür betörten die seidig zarten Streicherklänge, am allerschönsten vielleicht im Trio des dritten Satzes. Hier waren es nicht nur die sprechenden Holzbläserstimmen, sondern auch das ungemein klangschön gespielte ferne Posthornsolo über einem kaum mehr hörbaren, zart ausgebreiteten Geigenschimmer. Violeta Urmana verlieh, unterstützt von einer klagenden Oboe und einer singenden Violine, dem Alt-Sole mit ihrem dunklen und warmen Timbre mystische Tiefe. Der Kontrast zwischen diesem „Misterioso“ zu Nietzsches „O Mensch! Gib Acht!“ und dem kindlich-naiven Lied „Es sungen drei Engel“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ hätte dann wieder drastischer sein dürfen. Die Damen aus dem Chor des Bayerischen Rundfunks und der Kinderchor der Salzburger Festspiele intonierten klar und klangschön, artikulierten mit Präzision, doch die muntere Keckheit fehlte dem Vortrag ein wenig. Zart und fast zögernd leitete im abschließenden Adagio die Melodie der Flöte zur Coda über. Die gewaltige Steigerung und Apotheose, mit der Mahlers Dritte endet, ist einer der prachtvollsten und bewegendsten Schlüsse der gesamten Musikgeschichte. Claudio Abbado oder Mariss Jansons konnten ihr Publikum damit zutiefst bewegen, so dass nach dem Verklingen der letzten Töne oft lange und ergriffene Stille überm Konzertsaal lag. Nicht so bei Andris Nelsons. Rasch, allzu rasch setzte der Applaus im Festspielhaus ein und dankte freundlich für eine schöne, aber nicht allzu bewegende Matinee, die kaum im Gedächtnis haften bleiben wird.
Das vierte der sommerlichen Konzerte der Philharmoniker war, wie meist Mitte August, Riccardo Muti anvertraut. Der italienische Dirigent feierte in diesem Jahr nicht nur seinen 80. Geburtstag, sondern auch sein 50. Salzburger Festspieljahr: Seit 1971, als Karajan den jungen Mann zum ersten Mal eingeladen hatte, um Donizettis „Don Pasquale“ zu dirigieren, gab es nur einen Sommer, in dem Muti nicht in Salzburg gewesen ist. Zweihundertsiebzig Mal stand er während dieser Zeit auf der Festspielbühne, einhundertfünfzig Mal als Opern- und einhundertzwanzig Mal als Konzertdirigent.
Dass es nach so vielen Jahren immer noch Neues zu entdecken gilt, zeigte sein Konzert am 15. August: Zum allerersten Mal dirigierte Muti Beethovens „Missa Solemnis“, mit der er sich zwar ein Leben lang beschäftigt, die er aber wegen großer Ehrfurcht vor ihrer Tiefe und Komplexität bisher nie aufzuführen gewagt hat, wie Muti selbst sagt. Als Beethovens große Messe in D-Dur, uraufgeführt 1824 im fernen St. Petersburg, nach dem Tod des Komponisten erstmals im Druck erschien, war die Reaktion der Kritik unfreundlich, zum Teil ratlos. Ein Kritiker monierte den „Mangel an Einheit“ aufgrund der häufigen, unmotivierten „Wechsel des Zeitmaasses, der Ton- und Tactarten“, wodurch ein „zerstückeltes Bild“ beim Hörer entstehe. Was damals irritierte und als Mangel erschien, wird von der historisch informierten Aufführungspraxis längst als Qualität erkannt und geradezu in den Vordergrund der Interpretation gestellt. Riccardo Muti wählt einen anderen Ansatz. Ihm geht es nicht darum, das Zerklüftete der „Missa“ zu akzentuieren, ihre oft schroffe Fremdheit herauszustellen. „Für einen Interpreten“, sagte Muti in einem Gespräch, sei es „wichtig, stets das Ganze vor Augen zu haben, man darf sich nicht in Einzelheiten verlieren.“
Dieser Gefahr ist Muti nicht erlegen. Ein satter, spätromantischer Mischklang des groß besetzten Orchesters dominiert. Man mag diesen Ansatz altmodisch finden. Doch wie Muti die unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Mess-Teile herausarbeitet, ist überzeugend und rührt an. Er begreift Beethovens Werk als ein „Gebet der ganzen Menschheit zu Gott“ und zeigt die emotionalen Facetten dieser Hinwendung. Flehentlich bringt der Tenor von Dmitry Korchak seine Bitte um Erbarmen im „Gloria“ vor. Ein mehrfaches Ausrufungszeichen setzt Muti am Ende dieses Satzes mit dem zunächst auftrumpfenden, rein affirmativen „In gloria Dei Patris“, das dann aber durch eine mehrfache, sich steigernde Wiederholung doch ins Verzweiflungsvolle zu kippen droht. Das Drama der Menschwerdung Gottes, das im Credo geschildert wird, gestaltet Muti überaus differenziert und farbenreich: Geheimnisvoll erzählt die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor, die anfangs etwas verwaschen und im Sopran mitunter angestrengt und zu behaucht klang, von der Geburt Christi. Die Flöte illustriert mit flatternden Tönen den sich herabsenkenden heiligen Geist, warm und kraftvoll verkünden Chor und Orchester: „Et homo factus est“, um wenig später mit schmerzlich ersterbendem Klang Tod und Grablegung Christi zu schildern. Ehrfurchtsvoll und feierlich erklingt das „Sanctus“, in dem der leuchtende Sopran Rosa Feolas das gut aufeinander abgestimmte Solistenquartett (Alisa Kolosova: Alt, Ildebar Abdrazakov: Bass) überstrahlt und der Konzertmeister der Philharmoniker, Rainer Honeck, den Violinpart mit schmelzender Innigkeit vorträgt. Mit großer, fast opernhafter Dramatik brechen im „Agnus Dei“ dann in die Bitte um Frieden die Kriegslaute ein. Es folgen „timpani als Friedenszeichen“ (so Beethovens Vermerk in der Partitur), dann eine schlichte, fast beiläufige Schlusswendung – Beethoven hatte ja ursprünglich an eine Fortsetzung der Komposition gedacht. Riccardo Muti wird in Salzburg für seine Interpretation der großen Messe in D-Dur vom Publikum gefeiert. Aber der Applaus gilt gewiss nicht nur dieser Aufführung; er gilt auch der Lebensleistung, die Muti vollbracht hat, nicht zuletzt in Salzburg.