Beethovens „Missa solemnis“ unter John Eliot Gardiner
Beethovens „Missa solemnis“ unter John Eliot Gardiner
München, 24. September 2021, Raphael Haghuber

Nach der Aufführung von Beethovens Missa solemnis am 24. September 2021 im Münchner Herkulessaal war eines sehr schnell klar: Beethoven hat es tatsächlich knapp 200 Jahre nach der Uraufführung dieser Messe geschafft, unsere Hörgewohnheiten in Frage zu stellen und uns angesichts dessen, was er sich zwischen 1819 und 1823 abgerungen und letztlich als Partitur niedergeschrieben hat, zu erstaunen. Man fühlte sich zugleich tief bewegt, beeindruckt, aber auch verstört und vor den Kopf gestoßen.

Die Ursachen dafür liegen sowohl in der Anlage des Werks selbst als auch in dessen Darbietung an diesem Abend. Nur wenige Jahre vor seinem Tod arbeitete sich Ludwig van Beethoven zum zweiten Mal an der lateinischen Messliturgie ab, bereits im Zustand völliger Ertaubung. In diesem zeitlichen Umfeld komponierte er unter anderem auch die Neunte Symphonie, die ein ähnlicher Anspruch wie die Missa solemnis prägte: das Sprengen der Grenzen des Genres. Beethoven war in fast allen musikalischen Gattungen der maßgebliche Innovationstreiber seiner Zeit, überschritt die eng gesteckten Rahmenbedingungen und verfolgte seine eigenen, bahnbrechenden Ideen kompromisslos. Und so verwundert es nicht, dass aus der Missa solemnis eine sich über etwa 80 bis 90 Minuten erstreckende Tour de force geworden ist, die alle Ausführenden bis an die Grenzen des Machbaren treibt. Wahrlich keine Musik zur Untermalung eines sonntäglichen Gottesdienstes! Vielmehr ein gigantomanisches Werk, das zwar die fünf altbekannten Teile des Ordinarium missae (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei) umfasst, diese aber jeweils durch Wiederholungen und längere instrumentale Zwischenspiele in gefühlt maßlose Dimensionen streckt. Die an den einzelnen Textblöcken orientierte musikalische Ausdeutung stellt diese im Hinblick auf ihre Kontrastwirkung nebeneinander, was beispielsweise zu krassen dynamischen Gegensätzen von fortissimo und pianissimo auf engem Raum führt. Auch überraschend auftretende Fermaten unterbrechen den musikalischen Fluss, zwingen uns zum Zuhören, in diesem Wechselbad von absoluter Verinnerlichung und überbordender Kraft.

Und John Eliot Gardiner ist genau der richtige Dirigent für dieses Werk. Unter seiner Leitung brachten die vereinten BR-Kräfte diese gigantische Messvertonung zu Gehör, und was man da hören konnte, war außergewöhnlich: Die besondere Liebe des Dirigenten zur sakralen Musik inspirierte Chor, Orchester und Solisten sichtlich. Gardiner gehört nicht zu den romantisierenden Deutern der Missa solemnis und hat folglich kein Interesse daran, deren Kanten und Unebenheiten aufzuweichen. Stattdessen trieb er die Ensembles an, türmte Klangberge von atemberaubender Intensität auf, schärfte Kontraste, hielt aber den gesamten Organismus in ständiger Bewegung, ließ ihn atmen. Beethovens manische Kompositionsweise nahm musikalisch Gestalt an, aber auch das Zarte und Weiche hatte seinen Platz. Besser, also souveräner und aufregender, kann man diese Messe unter Live-Bedingungen wohl kaum realisieren.

Die wichtigste Rolle kam natürlicherweise dem Chor des Bayerischen Rundfunks zu, der schon seit vielen Jahrzehnten eine besondere Beziehung zur Missa solemnis pflegt; man denke nur an die zahlreichen Aufführungen und Einspielungen unter Colin Davis, Lorin Maazel, Bernard Haitink oder Christian Thielemann. Seiner Expertise wurde das Ensemble an diesem Abend mehr als gerecht. Die Sängerinnen und Sänger bewältigten jede noch so vertrackte Stelle mit verblüffender Meisterschaft, immer intonationssicher, tonschön und dabei stets angriffslustig, wenn Gardiner dies der Partitur entsprechend verlangte. Vor allem im A cappella und in den gemeißelten, aber auch transparenten Fugen (oft in rasendem Tempo) sorgten sie für Gänsehaut, und es tut unglaublich gut, wenn die extrem hohe Lage der Soprane einmal nicht in ein Schreikonzert mündet. Das Werk ist für Gesangsstimmen sehr unbequem komponiert, vielleicht weil Beethoven deren natürliche Grenzen nicht akzeptieren wollte, doch der Chor des BR ließ einen das in keiner Minute spüren.

Auch das Orchester präsentierte sich in stupender Form und folgte Gardiner auf seinem Weg durch die Klippen des Notentextes. Die links und rechts vom Dirigenten positionierten ersten und zweiten Violinen rangen in den Fugen lustvoll miteinander, die Blechbläser setzten prägnante, ja mitunter schroffe Akzente, das Holz verströmte sich in beseelten Kantilenen. Im Rahmen seines Solos im Sanctus gestaltete der Konzertmeister Radoslaw Szulc einen intimen, klangsensiblen Dialog mit dem übrigen Orchester und drängte sich niemals virtuos in den Vordergrund; das zeugt von wirklichem Geschmack. Das größte Lob gilt ohnehin der Tatsache, dass Orchester und Chor des BR immer als perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble agierten. Eine solche Qualität muss man lange suchen!

Die vier Gesangssolisten haben in der Missa solemnis ebenfalls keine leichte Aufgabe zu bewältigen. Tareq Nazmi, Julian Prégardien, Gerhild Romberger (eingesprungen für Ann Hallenberg) und Lucy Crowe fügten sich weitgehend harmonisch als Ensemble zusammen und überzeugten fast alle auch individuell. Nazmi fehlte bisweilen eine klangliche Autorität, aber er führte seine Stimme mit Konzentration und kantabler Wärme. Der Tenor Julian Prégardien warf seine Erfahrung als Liedsänger in die Waagschale und ließ seine Stimme leuchten. Lediglich in den lauten und hohen Momenten merkte man ihm an, dass er viele Kraftreserven mobilisieren musste. Nicht falsch verstehen: Beethovens Sopranpartie in der Missa solemnis ist unangenehm und schwer zu singen, aber Lucy Crowe konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Trotz vielen ätherischen Tönen im Pianobereich vermochte sie ihre Stimme vor allem in exponierten Passagen (etwa im Pleni sunt coeli oder auch im Agnus Dei) nicht zu kontrollieren und verstörte durch ein scharfes, unangenehmes Timbre. Folglich fügte sie sich auch nicht organisch in das Solistenensemble ein; bei Münchner Aufführungen dieser Messe aus der jüngeren Vergangenheit durfte man sich beispielsweise an Genia Kühmeier und Marlis Petersen erfreuen, die mit den Anforderungen besser zurechtkamen. Die Einspringerin erwies sich schließlich als der große Glücksfall im Solistenquartett: Gerhild Romberger führte ihren dunkel-samtigen und dabei immer beweglichen Mezzosopran souverän ins Feld, war in allen Lagen blendend disponiert und wusste genau, wann sie sich einfügen hatte oder hervortreten sollte.

Die zentrale Botschaft der Missa solemnis wird am Ende des Agnus Dei vermittelt: Wenn sich die Chorfugen auf den Text Dona nobis pacem aufbauen und intensivieren, scheint es, als riefe die gesamte Menschheit nach Frieden. Doch wenn Beethoven uns danach martialische Militärfanfaren und Paukenwirbel um die Ohren haut, wird deutlich, dass die Menschen letztlich selbst immer wieder an dieser Bitte scheitern und für Krieg sorgen. Beeindruckend, wie John Eliot Gardiner die Unvereinbarkeit von Friedensrufen und Kriegstreiberei mit grellen Farben als Furor erlebbar machte. Hier wagt sich Beethoven sehr weit aus dem liturgischen Kontext heraus und hält stattdessen uns Menschen den Spiegel vor.

Nach dieser zwingenden Aufführung blieb man aufgrund ihrer Intensität ermattet zurück. So klingt sakrale Musik, die zu allen Menschen spricht. Und der ewige Grenzüberschreiter Beethoven bringt uns eben auch nach knapp 200 Jahren immer noch zum Beben.