Don Giovanni ist als „Oper aller Opern“, wie E.T.A. Hoffmann sie in seiner Erzählung Don Juan benennen lässt, nicht nur Inbegriff romantischer Opernauffassung, sondern bis heute die bekannteste und weltweit meistgespielte Mozart-Oper geblieben und auch im internationalen Repertoire vermutlich die am häufigsten aufgeführte Oper überhaupt. Das mag neben der Qualität von Libretto und Musik auch besetzungstechnische Gründe haben; es braucht zwar ein großes Orchester und etliche Instrumentaleinsätze auf der Bühne, aber keinen großen Chor für dieses überschaubare Ensemble-Stück mit acht Darstellern. Als Dramma giocoso enthält es viel Komik und Spaß mit burlesken Einlagen, trotzdem fehlt es nicht an Entsetzen und Schrecken, schon zu Beginn findet ein Mord auf der Bühne statt, die Tochter wird sexuell bedrängt und ihr Vater ermordet („Sforzar la figlia ed ammazzar il padre!“), der böse Hauptdarsteller muss im Finale für seine Untaten mit Tod und Höllenfeuer büßen. Immerhin können die Übriggebliebenen als Moral der Gschicht verkünden: „Questo è il fin di chi fa mal; e de’ perfidi la morte alla vita è sempre ugual.“ Heißt Mozarts Oper mit vollständigem Titel doch Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni. Die Opernbühne als eine moralische Anstalt betrachtet.
Der Anspruch des neuen Staatsopern-Giovanni (Premiere 2. April 2022) in der Regie Vincent Huguets ist noch deutlich größer, soll er doch den Abschluss seiner „Mozart-Da-Ponte-Trilogie“ darstellen, die mit Così einsetzte (Premiere 6. Oktober 2021) und sich mit Figaro (Online-Premiere 1. April 2021/Publikumspremiere 18. September 2021) als Mittelstück zu einer „Trilogie der sexuellen Befreiung“ verdichte, parallel zum Aufbau von Michel Foucaults fragmentarischem Spätwerk Histoire de la sexualité, das freilich fünf- bis sechsteilig geplant war (und woraus seit 2018 der vierte Teil Les Aveux de la chair postum vorliegt). Don Giovanni entspricht laut Huguet dem dritten Band, mit der Sorge um sich als zentralem Thema. So unmotiviert diese Gleichsetzung mit einem gänzlich anders strukturierten Theorie-Werk ist, so wenig überzeugend fällt auch der Abschluss der Huguet-Trilogie aus. Denn der Lüstling, der sich gehen lässt und in da Pontes Libretto nur „Lasciar le donne? Pazzo! Sai ch’elle per me son necessarie più del pan che mangio, più dell’aria che spiro!“ auf den Vorschlag Leporellos, es ruhiger angehen zu lassen, antwortet, ist das Gegenteil dessen, worum es bei Le souci de soi in der Sexualitätsgeschichte Foucaults geht.
Der schreibt im Unterschied dazu sogar, die Sorge um sich (ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ/cura sui/souci de soi) sei eine Kulturtechnik, um sich durch alle denkbaren zu Askese und Zurückhaltung führenden Übungen und Praktiken selbst zu formieren und gerade durch Triebverzicht zum Individuum heranzubilden und sich dadurch zu sich selbst zu wenden. Don Giovanni aber verliert sich unentwegt in den anderen. Von Einkehr, Selbstreflexion oder gar Umkehr ist trotz mahnender Worte und eindringlicher Bitten bis zum fatalen Ende hin bei ihm nichts zu erkennen.
Man kann Mozarts Don Giovanni demnach kaum abstruser und historisch mutwillig unkorrekter zuordnen als über eine solche Fehllektüre von Foucaults Sexualität und Wahrheit, wo es sogar um eheliche Treue sowie sexuelle Zurückhaltung und Enthaltsamkeit in der Ehe geht. Wobei Donna Elvira (Leporello sicher weniger und auch sonst niemand) den Weg der Askese wählen könnte, will sie doch ins Kloster eintreten. So ist der Ansatz, alle drei Opern auf ein Paar zu fokussieren und Don Giovanni nach durchlaufener midlife crisis als Darstellung von Alter und Tod des gealterten Verführers zu perspektivieren, grundsätzlich erkenntniserweiternd und könnte spannend geraten. Für Huguet war es bislang freilich der männliche Protagonist, dessen Geschichte ihn interessierte, wobei im nochmals abgeänderten Programmhefttext mittlerweile sogar das Paar fokussiert wird: „Im Herzen dieser dreiteiligen Erzählung stehen ein junger Mann, Guglielmo aus ‚Così fan tutte‘, der in ‚Le nozze di Figaro‘ als Graf Almaviva wiedererscheint, und eine Frau, die Gräfin aus ‚Le nozze‘, welche das eheliche Haus verlassen wird und sich unter dem Namen Elvira in einen gewissen Don Giovanni verlieben wird. Dessen Diener Figaro ist dabei kein geringerer als Figaro.“ (vgl. die erheblichen Textänderungen anhand der Besprechung von „Mozarts ‚Così fan tutte‘ an der Berliner Staatsoper“ im Neuen Morgenblatt)
Dass das alles so wenig überzeugt, liegt weniger an der Bühne (Aurélie Maestre) und den Kostümen (Clémence Pernoud), die noch so etwas wie eine optische Klammer bilden, sondern an Unzulänglichkeiten der Regie sowie an der Besetzung. Selbst als eigenständiger und isolierter Don Giovanni kann diese neue Inszenierung nicht überzeugen und bildet – man muss es leider sagen – den abschließenden Tiefpunkt dieser Huguet-Trilogie. Ende schlecht, alles schlecht. Leider. Tönt es alles doch wirklich interessant: Guglielmo, Conte Almaviva und Don Giovanni sowie Fiordiligi, Contessa Almaviva und Donna Elvira als jeweils eine biographische Person in verschiedenen Lebensaltern anzusetzen, auch Figaro und Leporello, ist erst einmal ein interessanter Ausbruch aus dem Typenrepertoire der Opera Buffa, der alle Da Ponte-Libretti zugehören. Es sind dann nicht mehr die zwangsweise stereotyp gezeichneten Charaktere, von denen erzählt wird. Ihre Ähnlichkeit wird nun biographisch begründet, die Hauptprotagonisten werden individualisiert.
Doch gerade da hapert es; während für Rosina Almaviva und Elvira die Sopranistin Elsa Dreisig und für Figaro und Leporello der Bariton Riccardo Fassi vorgesehen sind (auf dem Papier; es kam nicht nur bei Così und Figaro, sondern sogar trotz nur vier angesetzter Aufführungen sogar beim Giovanni zu erheblichen Umbesetzungen, zumindest bei der besuchten Aufführung am 20. April), klappt alles schon nicht mit der zentralen männlichen Figur, die am Ende eines Wüstlingslebens nicht gerettet, sondern nur gerichtet wird. Guglielmo und Almaviva waren mit Gyula Orendt besetzt, zum Trilogie-Schluss ist es nun aber Michael Volle. Die Zeitsprünge sollen laut Huguet 1969 – 1988 – 2019 zwischen den Trilogie-Teilen betragen. Auch wenn Damen anders altern mögen als Herren oder das draufgängerische, promiske und befehlshaberische Adelsleben womöglich aufreibender sein könnte als das eines Domestiken, ist Volle doch sichtbar älter als die beiden ihn flankierenden Darsteller Dreisig und Fassi. Das macht es unglaubwürdig. Und auch diesem großen Künstler gegenüber undankbar.
Denn natürlich hat Volle (allermeist) eine überragende Stimme und ist als Darsteller anspruchsvoller Charakterrollen wie etwa als Falstaff (in dieser Saison an der Staatsoper) oder Hans Sachs (letztjährig in Bayreuth) unübertroffen, aber eben mittlerweile genau in Rollen, wo amouröse Leistung und eigene Selbstwahrnehmung (der feiste Falstaff, der eheunwillige Sachs) offensichtlich differieren. Dass sich diese Giovanni-Verkörperung gegen Ottavio (Bogdan Volkov) oder Masetto (David Oštrek; am 20. April umbesetzt mit Peter Kellner) durchsetzen könnte, sagt nur das Libretto, ist aber mit Blick auf diese Besetzung extrem unwahrscheinlich. Don Giovanni verkommt damit selbst zum Buffo, zum Falstaff, der sich für unwiderstehlich hält, es aber in den Augen von niemandem (mehr) ist.
Völlig unplausibel ist – mit Blick auf den Trilogiegedanken –, dass die drei zwischen den drei Opern durchgereichten Figuren ohnehin immer unterschiedlich besetzt waren; aus der Figaro-Besetzung von September/Oktober 2021 mit Gerald Finley als Figaro und Anna Prohaska als Susanna war niemand mehr für Don Giovanni vorgesehen. Natürlich können Besetzungen auf der realen Opernbühne nicht immer so ideal sein wie auf dem Papier oder in Studioproduktionen, aber die Idee, der Weiterentwicklung der Figuren über mehr als 50 Jahre (1968–2019) beizuwohnen, leidet erheblich unter solchen Umbesetzungen. Und warum wandelt sich – allein von der Figurenentwicklung her – etwa Almaviva dann vom Musikmanager, Konzertveranstalter oder Produzenten im Figaro in etwa 30 Jahren zu einem Modelphotographen oder Photostudiobetreiber, der Ende des ersten Akts statt eines Fests seine Vernissage „Giovanni Retrospective 40 Years of Photography 02.04 > 20.04“ abhält?
Hinzu kamen in der besuchten Aufführung weitere krankheitsbedingte Ausfälle; freilich gelungene Ersetzungen. Dass Daniel Barenboim nicht dirigieren konnte und durch Thomas Guggeis ersetzt wurde, muss man nicht bedauern, zu oft war er in der letzten Zeit eher durch bräßige Dirigate mit verschleppten Tempi und behäbiger Dynamik aufgefallen; Guggeis unterläuft dies nicht, er führt die Staatskappelle souverän und spritzig von der Ouvertüre bis zum Schluss. Kurzfristig ersetzt werden mussten Elsa Dreisig durch Nicole Chevalier als Elvira und David Oštrek durch Peter Kellner als Masetto. Beiden Einspringern war anzusehen, dass manches etwas ruckelte, niemals aber anzuhören; aufgrund statischer Figurenregie und dem Umstand, dass auch die Ensembleszenen unnötig starr geführt sind, fiel kaum ins Gewicht, dass Chevalier mit einem Tag Vorlauf und Kellner gar nur mit wenigen Stunden Vorbereitungszeit in diese Produktion einstiegen. Beide leisteten wirklich Großartiges; Chevalier sang etwa die große „In quali eccessi, o Numi“-Arie bewegend und überzeugend, legte auch Elviras Zerissenheit ganz hinein; auch Kellner war stimmlich präsent und schwächelte nirgends, bestach auch gemeinsam mit Zerlina (Serena Sáenz) als adäquater Bühnenpartner.
Auch sonst stimmte musikalisch an diesem Abend vieles. Martin Wright hatte seinen Chor, der endlich wieder ohne Maske singen durfte, gut eingespurt, obwohl erwartbare Smash-Nummern (Don Giovannis Champagner-Arie etwa, zu der Volle eine Sekt-Bowle zusammenpanschte, oder Leporellos Register-Arie, die mau ausfiel, während auf dem iPad die Photomodels durchgeswipt wurden) nicht so eindrücklich gerieten, wie erwartbar gewesen wäre, waren Volle und Fassi doch routiniert und auch stimmlich präsent, mitunter sogar sehr gut aufeinander eingespielt.
Überragend sang Sáenz, auch wenn sie als Zerlina eigentlich eine Fehlbesetzung ist. Hier gelingt auch den Kostümen nicht richtig, die Fallhöhe der Figuren (etwa auch zu Donna Anna und Don Ottavio) anzuzeigen. Zerlina und Masetto schlurfen im Trainer-Look in Jogginghosen und Turnschuhen über die Bühne und sehen aus wie beliebige Handwerker oder Hausmeister; aber das tun mehr oder weniger alle anderen Figuren auch, nicht nur Leporello, bei dem es als Bediensteter noch angehen würde, sondern sogar Don Giovanni, der in Turnschuhen wie ein amerikanischer Tourist wirkt. Die Kostüme sind zugleich so forciert zeitgemäß im Hipster-Look, dass nicht klar ist, ob man sich noch auf einer Probe befindet oder bereits in der eigentlichen Aufführung. Gut gelingt das Kostümieren lediglich beim Chor, der das Vernissage-Publikum darstellt, Party-People und Bussi-Gesellschaft auf der Jagd nach Drinks und Häppchen.
Wirklich gut besetzt ist Slávka Zámečníková als Donna Anna; deren Verlobter und Vater werden durch Bogdan Volkov und Peter Rose gleichfalls vortrefflich gesungen, wenn auch Rose ankündigen ließ, dass er aufgrund gesundheitlicher Probleme eigentlich nicht singen könne. Am Ende ist – trotz so vieler Umdisponierungen und Umbesetzungen – musikalisch wenig auszusetzen an dieser Giovanni-Aufführung. Das ist auf der einen Seite gut, weil eine gelungene Inszenierung bei gleichzeitigem Ungenügen in der musikalischen Ausführung immer unbefriedigender ist als das Gegenteil; zum anderen zeigt es auch die Beliebigkeit dieser Opernregie in greller Deutlichkeit.
So ist das „Questo è il fin di chi fa mal“-Sextett schließlich mehr als moralisierender Giovanni-Schluß; es gerät zum Kommentar über Huguets gut gemeinte, jedoch schlecht gemachte Inszenierung: Questo è il fin di quello fatto male. Ende schlecht, alles schlecht.