Zwei Mythen – Faust und Don Giovanni – durchziehen über Jahrhunderte Literatur und Musik der abendländischen Kultur. Man hat sich zu fragen: Warum werden sie immer wieder zum Zentrum der verschiedensten Kunstwerke? Und was haben sie gemeinsam, und warum regen sie immer wieder das Interesse des Publikums, beziehungsweise der Leser an? Eine mögliche Antwort wäre, dass beiden Figuren die Freude am Leben gemeinsam ist, die unverhohlene Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse und die damit verbundene Leichtfertigkeit, sich über bestehende bürgerliche Konventionen hinwegzusetzen, ohne Rücksicht auf eventuelle Opfer. Aber am Ende treffen sie immer auf ihre Rächer und werden dem Urteil einer höheren Instanz ausgeliefert, und damit wird unseren Wertvorstellungen Genüge getan.
Zum dritten Mal in elf Jahren bringt nun das Mailänder Opernhaus, kurz La Scala genannt, Mozarts „Don Giovanni“, ein „dramma giocoso” (heiteres Drama), wie er es selbst nennt, auf die Bühne. Giocoso? Ein Oxymoron, denn das Libretto von Lorenzo da Ponte spricht von versuchter Vergewaltigung, einem Mord und dem definitiven Untergang der Titelfigur. Von „giocoso“ kann also kaum die Rede sein.
Diese Zweideutigkeit wird verdeutlicht durch die atemberaubende Regie des Kanadiers Robert Carsen und die Szenografie seines Landsmanns Michael Levine. Beide bedienen sich des Verfremdungseffekts im Brechtschen Sinn, indem sie Theater im Theater zeigen, ohne falsche Illusionen aufkommen zu lassen. Schon der Anfang der Oper ist bemerkenswert: nach der Ouvertüre springt Don Giovanni aus dem Zuschauerraum mit einem Knall auf die Bühne, reißt den Vorhang herunter, und eine Fotografie des Zuschauerraums, die sich hin und her bewegt, wird sichtbar. Auch sonst befinden sich die Sänger wiederholt im Parkett des Theaters, singen aber unbeirrt weiter, sich auf dem Boden wälzend.
Die Oper wird von dem jungen Spanier Pablo Heras-Casado bei seinem Debut in der Scala dirigiert; mit sicherer Hand führt er das Orchester durch die zauberhafte Musik Mozarts. Don Giovanni wird von dem Engländer Christopher Maltmann (Bariton) gesungen, der in dieser seiner Paraderolle seit Jahren auf internationalen Bühnen glänzt. Aber übertroffen wird er, sowohl stimmlich als auch szenisch, von Alex Esposito (Bass-Bariton) als Leporello, der heute als der vielversprechendste Mozart-Interpret bezeichnet wird. Andere männliche Sänger sind Fabio Capitanucci, der in der Scala-Akademie gross geworden ist und als Masetto seine Zerlina (Andrea Carroll) kraftvoll aus den Klauen Don Giovannis befreit, und Don Ottavio (Bernhard Richter), der den Mord an Donna Annas Vater aufdeckt. Die beiden Opfer von Don Giovannis vergangenen Missetaten, Donna Anna (Hanna-Elisabeth Müller) und Donna Elvira (Emily Dangelo) verblassen allerdings etwas gegen ihre männlichen Kollegen.
Und dann kommt er – der Commendatore oder der Steinerne Gast –, aber in Fleisch und Blut der stimmgewaltige koreanische Bass Jongmin Park, der aus der zentralen Loge im ersten Stock (die normalerweise bedeutenden Gästen vorbehalten ist) sein vernichtendes Urteil über Don Giovanni erklingen lässt.
Carsens Ideenreichtum erreicht den Höhepunkt am Ende der Aufführung. Der Untergang Don Giovannis und die Erleichterung seiner Ankläger wird ins Ironische umgekehrt: letztere versinken im Nebel des Infernos und Don Giovanni überragt triumphierend die Schlussszene – ein unverwüstlicher Macho, dem wahrscheinlich auch die Me-too-Bewegung nichts anzuhaben vermag.