Es war der 5. November 1780, als Mozart, die begonnene Partitur seiner neuen Oper im Gepäck, von Salzburg nach München aufbrach. Wer die Briefe liest, die der noch nicht fünfundzwanzig Jahre alte Komponist mit seinem Vater bis zur Uraufführung des „Idomeneo“ Ende Januar 1781 im Cuvilliés-Theater tauschte, bekommt eine Ahnung davon, in welchem Schaffensrausch sich Mozart damals befunden haben muss. Später wird er diese Zeit in München als die glücklichste seines Lebens betrachten. Als er 1783 mit seiner Frau Constanze den Vater in Salzburg besuchte und zusammen mit ihm und der Schwester, dem Nannerl, das berühmte Quartett „Andrò Ramingo“ aus „Idomeneo“ sang, war er so erschüttert, dass er in einem Verzweiflungsausbruch weinend das Zimmer verlassen musste und lange nicht zu beruhigen war. Zeitlebens hat Mozart seine frühe Oper geliebt – und das mit Grund, ist dieses Werk doch das Resultat eines schöpferischen Ausbruchs „gleichsam vulkanischen Ausmaßes“ (Silke Leopold). Die Ausdruckskraft der Rezitative, die Dramatik der Arien, die unerhörte Wucht der Chorszenen – all das sucht in der Tat seinesgleichen. „Man sollte nicht meynen, daß in einem so kleinen kopf, so was grosses stecke“, befand denn auch Kurfürst Karl Theodor, dem Mozart den Auftrag für die neue Oper verdankte.
Constantinos Carydis und das Bayerische Staatsorchester machen bei der letzten Premiere in dieser Saison den dramatischen Furor dieser Musik hörbar. Mit einem eher klein besetzten Streicherapparat, der sein Vibrato sparsam einsetzt, vorzüglichen Holzbläsern, einem kernigen Blechbläser-Ensemble (zwei Trompeten, vier Hörner, drei Posaunen) und einer lustvoll musizierenden Continuo-Gruppe (samt Barockgitarre, Hammerklavier und Cello) bringt der in Athen geborene Dirigent den unwiderstehlichen Schwung dieser Musik zur Geltung. Carydis liebt die harschen, zuweilen harten Effekte, eigenwillige Temporückungen, klaffende Pausen. Was bei seinem „Figaro“- oder gar „Zauberflöten“-Dirigat zuweilen allzu gewollt und grobianisch anmutete, wirkt bei dieser frühen Oper stimmig als Ausdruck eines musikalischen Sturm und Drang.
Doch nicht durchweg überzeugt dieser Ansatz: Die lyrischen Arien liegen Carydis weniger gut als die dramatischen, und zuweilen drängt sich sein Wille zur Gestaltung und Originalität allzu sehr in den Vordergrund. So etwa, wenn er bei Idamantes zartem Rondo „Non temer, amato bene“ das Hammerklavier derart akzentuiert, dass die eigentliche Gesangslinie darunter zu verschwinden droht. Dabei ist Emily D’Angelo mit ihrem charaktervollen, herb timbrierten glutvollen Mezzosopran ein Idamante, wie man sich ihn nur wünschen kann. Insgesamt ist dieser Opernabend glanzvoll besetzt: Wann zuletzt war ein Tenor in der Lage, Idomeneos große Arie „Fuor del mar“ mit ihren virtuosen Passagen und ihrem auftrumpfenden, von Pauken und Trompeten unterstützten Herrschergestus derart kraftvoll zu gestalten wie jetzt Matthew Polenzani, der selbst hier über den nötigen Überschuss zur künstlerischen Gestaltung verfügt? Lyrisch zart, wenn im Ausdruck zuweilen auch etwas gleichbleibend (bei „Zeffiretti lusinghieri“ wäre zum Beispiel eine differenziertere Farbgebung möglich) gestaltete Olga Kulchynska die Partie der Ilia. Mit Hanna Elisabeth Müller stand ihr eine großartige Elletra gegenüber. Dabei gab sie nicht nur mit dramatischem Furor ein rasendes Weib mit irrem Höllengelächter in ihrer halsbrecherischen Abschluss-Arie „O smanie, o furie“, sondern mit lyrischem Schmelz auch eine innig auf Liebe und Zuneigung hoffende Frau: „Idol mio, se ritroso“.
So erfreulich, ja beglückend dieser „Idomeneo“ musikalisch war, so enttäuschen, ja abstoßend geriet er szenisch. Auf einer schwarzen, bis auf die Brandmauern geöffneten Bühne sind als Dekorationselemente die Skulpturen der englischen Künstlerin Phyllida Barlow ausgestellt. Sie sind nicht nur ausgesprochen hässlich, sondern in ihrem symbolischen Gehalt auch ziemlich plump. Ein rötlicher Pappmaché-Felsbrocken hängt zunächst dräuend über der Bühne, bis er von einem Stangengerüst notdürftig abgestützt wird. Man erkennt: Die Gefahr schwebt ständig über den Kretern. In einem aus rohen Brettern gezimmerten Holzverschlag auf schwanken Beinen gestehen sich Ilia und Idamante ihre Liebe, die – aha! – so gefährdet ist wie diese merkwürdigen Hochsitze.
Die Figuren, die sich in dieser von einem verrotteten Landungssteg dominierten Szenerie aufhalten, erinnern mit ihren langen, batikartigen Gewändern und zottigen Frisuren entweder an späte Hippies (die Priester) oder an Handwerker und Müllmänner in Overalls (das Volk). Verantwortlich für diese schauerliche Kostümierung ist Victoria Behr. Fünfmal wurde sie bereits zur Kostümbildnerin des Jahres gekürt. Antú Romero Nunes buchstabiert in diesem deplorablen Setting die Handlung mit einem überkommenen, abgestandenen Gestenrepertoire wacker nach. Seine Regie wirkt wie die schlechte Parodie einer Inszenierung aus den 90er Jahren. Zum Thema der Oper, dem zentralen Konflikt zwischen menschlichen Leidenschaften und göttlichem Gesetz hat er genauso wenig zu sagen wie zur Figur Neptuns oder zur Humanisierung des Mythos’, die Goethe doch fast zur gleichen Zeit in seiner „Iphigenie“ gestaltete. Nichts davon bei Nunes. Stattdessen einige „Regie-Einfälle“ wie zum Beispiel eine Klettereinlage Idamantes oder kaum verständliches Stimmengewisper vor und nach der Aufführung. Wie enttäuschend!
Wer sich diese ganze Regie-Hässlichkeit ersparen möchte, dem sei die Live-Übertragung der Oper am 24. Juli auf BR-Klassik empfohlen. Und wer sich gerne ein eigenes Bild der Aufführung machen möchte, der hat dazu am 26. Juli auf staatsoper.tv die Möglichkeit. Sage keiner, man habe ihn nicht gewarnt.