Fangen wir mit dem Positiven an: So schlimm wie bei der Premiere im Jahr 2018 ist die Neueinstudierung von Lydia Steiers „Zauberflöte“ nicht mehr. Die Verlegung vom Großen Festspielhaus ins intimere Haus für Mozart hat ihr gut getan, schon allein deshalb, weil die kleinere Bühne weniger Platz für die Entfaltung der diversen Einfälle der Regisseurin bietet. Dennoch, diese Produktion ist nach wie vor ein Ärgernis, denn Frau Steier hat an ihrer Arbeit zwar dies und jenes geändert, das Grundübel des Konzeptes aber eigensinnig beibehalten. Gespielt wird hier eigentlich gar nicht Mozarts Oper. Gezeigt wird vielmehr, wie der Opa einer großbürgerlichen Familie kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges seinen drei Enkeln das Märchen von der Zauberflöte vorliest. Nun ist die „Zauberflöte“, KV 620 so manches: Vorstadtkomödie und Mysterienspiel, Initiationsritual und Posse. Eines aber ist sie ganz sicher nicht: Eine harmlose Gute-Nacht-Geschichte zum Einschlafen. Dazu aber macht Frau Steier Mozarts Oper. Schon während der noch vielversprechend musizierten Ouvertüre beginnt die Misere: In einer großbürgerlichen Familie gibt es Streit, weil die drei Söhne zu spät zum Abendessen erscheinen. Sie werden ins Bett geschickt, und nun trägt der Opa im Kinderzimmer aus einem dicken Buch das erste Kapitel des Märchens um den Prinzen Tamino vor. Lesend verbindet diese erfundene Erzähler-Figur im Laufe des Abends die wie in die Geschichte eingestreut wirkenden Musik-Nummern statt der Dialoge miteinander. Roland Koch liest gut, keine Frage, aber der Text von Ina Karr passt in seiner politischen Korrektheit und volkshochschulhaften Pädagogik überhaupt nicht ins Wien des Jahres 1913, wo diese Geschichte doch spielen soll: Kein „Schwarzer“ ist Monostatos, sondern ein unterprivilegierter „Diener“, der Pamina in seiner kurzen Arie, von Peter Tantsits mehr gekrächzt als gesungen, folglich nicht als „Weiße“, sondern als „Holde“ begehrt.
Die eigentliche „Zauberflöten“-Handlung erscheint durch Steiers Rahmen-Konstrukt als die Phantasiewelt der drei Buben (gut gesungen und gespielt von den Wiener Sängerknaben). Dieses Konzept könnte nun immerhin dazu dienen, eine traumhaft-schöne Ausstattung als Produkt einer kindlichen Imagination zu legitimieren. Diese drei Buben denken beim Hören der Geschichte aber offenbar keineswegs an eine Märchenwelt mit bläulich grünen Wäldern, nächtlichem Sternenhimmel und geheimnisvollem Tempelwesen. Was ihrer kargen Phantasie entspringt, ist von der Gegenwart der Rahmenhandlung kaum zu unterscheiden. Das Personal der Geschichte wird nämlich aus dem großbürgerlichen Haushalt rekrutiert. Papageno (Michael Nagl mit angenehmer Bariton-Stimme) zum Beispiel arbeitet dort offenbar als Koch und liefert in seiner blutbesudelten Schürze zu seinem Eingangslied „Der Vogelfänger bin ich ja“ allerlei gerupftes Geflügel ab.
Immerhin bleibt den Besuchern der Wiederaufnahme die Zirkuswelt erspart, in der 2018 Sarastros Reich angesiedelt war. Jetzt singen Tareq Nazmi als etwas schwachbrüstiger Herrscher und seine Eingeweihten im grauen Anzug (homogen und rund im Klang: der Wiener Staatsopernchor) im Kellergeschoss und in labyrinthisch verwinkelten Hinterhöfen (Bühne: Katharina Schlipf, Kostüme: Ursula Kudrna) von „Isis und Osiris“ ebenso wie von der Rache, die man in diesem Reich nicht kenne. Dabei scheint Sarastro eine Art von General zu sein, der Tamino (mit engem Tenor ohne lyrischen Schmelz: Mauro Peter) zur Feuer- und Wasserprobe in den Krieg schickt, wie die Video-Bilder von Schlachtfeldern und zerfetzten Leibern vermuten lassen. Da ist es traurig-konsequent, dass die vielen, vielen Kinderlein, die Papageno und Papagena (Maria Nazarova) sich wünschen, von Rote-Kreuz-Schwestern auf den Armen gewiegt werden, wohl gedacht als kommendes Kanonenfutter. Was am Ende mit den drei Damen und ihrer Herrin, der Königin der Nacht (wackelig und ohne Strahlkraft: Brenda Rae), wird, bleibt ebenso unklar wie die Frage, wer diese Leute eigentlich sind und was sie wollen. Von der märchenhaften Dialektik zwischen Gut und Böse will Frau Steier nämlich ebenso wenig wissen wie vom Sieg des Lichtes über die Nacht, mit dem Mozarts Werk doch eigentlich schließt. „Für mich gibt es in diesem Stück kein Schwarz oder Weiß, sondern nur Grau“, sagt die Regisseurin. Gräulich (alte Rechtschreibung: greulich) ist denn auch ihre Inszenierung. Da helfen die vielen Referenzen nichts, die im Programmbuch aufgeführt werden. Koschorke und Benjamin werden ausführlich zitiert, man erfährt, dass der Komik „Little Nemo“ von Winsor MacCay und der Film „The Princess Bride“ als Inspirationsquellen gedient hätten. Mag sein. Nur kann das alles nicht verdecken, dass die Regisseurin auch bei der Überarbeitung ihrer Inszenierung mit Mozarts Oper im Grunde nichts anzufangen wusste: Ihr Witz, ihre Märchenhaftigkeit, vor allem aber ihre Seelentiefe scheinen ihr fremd zu sein.
Leider setzt Joanna Mallwitz dieser Regie mit den präzise, aber seltsam distanziert agierenden Wiener Philharmonikern keinen farbenreicheren Kontrast entgegen. Flott und robust geht’s dahin. Die Musik hat kaum Raum zum Atmen, große Bögen fehlen, zu selten dürfen Melodien beseligend aufblühen, musikalische Linien sich aussingen. Gerade nach der beachtlichen „Cosi fan tutte“ von 2020 ist dieses Dirigat enttäuschend. Es bleibt ein Glanzpunkt: Regula Mühlemann ist mit ihrem edlen Sopran, der Kraft und Glanz auch im Piano nicht verliert, eine großartige und anrührende Pamina, die ein letztlich doch zweitklassiges, keinesfalls festspieltaugliches Ensemble hell überstrahlt. Und so fragt man sich beklommen: Ist das wirklich alles, was das exklusive Salzburg in Sachen Mozart zu bieten hat? Traurig wäre das, traurig.