Musentempel am Ring
Ein Streifzug durch Wiens Kulturheiligtümer
Wien, 21. Oktober 2023, Christian Gohlke

Der Musikverein, die Staatsoper, das Burgtheater – das ist die heilige Dreifaltigkeit österreichischer Hochkultur, umweht vom Mythos einer großen und wahrhaft glanzvollen Vergangenheit. Der legendäre Ruhm dieser Institutionen besteht bis heute. Besteht er zurecht? Oder wird eine schale Wirklichkeit diesem Nimbus kaum mehr gerecht? Zugegeben, eine solche Frage profund zu beantworten, bedürfte einer eingehenderen Analyse als dieser Beitrag es sein kann. Aber ein Besuch an einem mehr oder minder beliebig ausgewählten Wochenende im herbstlichen Wien gibt doch immerhin einen Eindruck von dem, was geboten wird. Es ist, um es gleich zu sagen, sehr viel.

Da ist zunächst die Wiener Oper, das erste Haus am Ring, ein Monument der Größe und Beharrlichkeit, eine feste Burg, die den Zeitläuften trotzt. Weder der Untergang der Monarchie noch der Krieg noch gar das Regietheater konnten ihr bis heute ernstlich etwas anhaben. Letzteres zeigt die Inszenierung, die zum 150. Geburtstag des Hauses am 25. Mai 2019 Premiere hatte. Vincent Huguet erzählt die Geschichte der „Frau ohne Schatten“ solide – und leider arg betulich. Dabei war es ein stimmiger Einfall, gerade diese Oper zum Jubiläum auf den Spielplan zu setzen, behauptet sie doch selbst in unruhigen Zeiten – das Werk entstand während des Krieges und wurde im Oktober 1919 in Wien uraufgeführt – ein tief ins 19. Jahrhundert zurückweisendes Modell der Stabilität und Beständigkeit. Worum geht es in diesem oft rätselhaften Werk eigentlich? Der Mensch soll sich einreihen in den Reigen der Geschlechter, Teil der „Brücke“ sein, „die sich über den Abgrund spannt, auf der die Toten wiederum ins Leben gehen“, so die „Stimmen der Wächter“ am Ende des 1. Aufzugs. Wem dies nicht gelingt, der muss „versteinen“ (dem Kaiser droht dieses Schicksal), oder er ist eben nicht Teil der Menschenwelt, wie die Kaiserin es nicht ist, bevor sie des Mitleids fähig wird und schließlich selbst einen Schatten wirft. Weil der Regisseur für die überreiche Metaphorik des Textes keine Bilder findet, kommt dieser Kerngedanke der Oper in Huguets Inszenierung kaum zur Geltung – geschweige denn, dass er auf seine Relevanz für unsere Gegenwart befragt würde. So bleibt der Abend allzu sehr dem wörtlichen Hergang der Handlung verhaftet, indem er sich vor allem auf die zwei im Zentrum stehenden Paare, den Kaiser und die Kaiserin, Barak und die Färberin, konzentriert. Das könnte nun durchaus lohnend sein, wenn die Regie es verstünde, psychologisch glaubwürdig und genau zu erzählen. Doch die Sänger wirken in dieser Produktion eher unbeholfen auf der Bühne, die in Aurélie Maestres Ausstattung immerhin den Kontrast zwischen den sozialen Schichten zur Anschauung bringt. Es kam erschwerend hinzu, dass Michael Volle, der den Barak singen sollte, kurzfristig durch Tomas Konieczny ersetzt werden musste, der mit der Wiener Fassung kaum vertraut war. Er machte seine Sache bei minimaler Probenzeit bewundernswert gut. Doch sein gaumiges Timbre und die unklare Artikulation mit dauernden Vokalverfärbungen bleiben problematisch. Die Färberin, eine vergrätzte Frau in der Sinnkrise, die Barak zunächst harsch von sich weist und mit Liebesentzug straft, wurde von Elena Pankratova mit markantem und belastbarem Mezzo gegeben. Ihr gelang ein glaubhaftes Rollenportrait. Demgegenüber blieb die Kaiserin, von Elza van den Heever mit etwas engem und hartem Sopran gesungen, etwas eindimensional. Ihr Gatte, der Kaiser, gebot in der Darstellung Andreas Schagers mit äußerst kraftvollem, eher metallischem und etwas einfarbigem Tenor über bewundernswerte Kraftreserven. Wie umsichtig und klar Christian Thielemann dieses hochbeachtliche Ensemble durch den Abend führte, verdient jede Bewunderung. Vor allem aber: Das großartige Staatsopernorchester entfaltete unter seiner so präzisen wie geschmeidigen Leitung eine Klangpracht sondergleichen, ohne dabei je die Sänger zu übertönen. Die feinen dynamischen Nuancen, die vom kaum noch hörbaren Pianissimo bis zu ekstatischen Ausbrüchen gerade in den orchestralen Zwischenspielen reichte, die Erlesenheit der solistischen Passagen, die sprechenden Holzbläser, das strahlende Blech, der Schmelz des Cellos, die Homogenität der Streicher, all das wurde vom Publikum schon beim Wiedererscheinen des Dirigenten nach den Pausen stürmisch gefeiert.

Dass die nahezu identische Orchesterbesetzung nach einer solchen, gewiss kraftzehrenden Leistung anderntags um 11 Uhr bei der Matinee im Goldenen Saal des Musikvereins sitzt und so ausgeruht und frisch klingt wie nur eh, grenzt an ein Wunder, das es in dieser Form wohl nur in Wien gibt. Tugan Sokhiev leitete das 2. Abonnementkonzert der Philharmoniker, und diese zehn Abo-Konzerte gehören nach wie vor zum Erlesensten, was Wien zu bieten hat. Sokhiev ließ im ersten Teil Lang Lang im selten gespielten Klavierkonzert Nr. 2 von Camille Saint-Saëns breiten Raum zur Entfaltung, sorgte für angenehme Tempi und ein perfekt koordiniertes Zusammenspiel. Lyrisch zart und impressionistisch farbenreich glückte (bei recht starkem Einsatz des Pedals) der wohlgelaunte Mittelsatz, rasende Läufe und Trillerketten perlten dem Pianisten mit stupender technischer Meisterschaft im Presto-Finale von den Fingern. Das ist Repertoire ganz nach dem Geschmack und den Fähigkeiten Lang Langs, und das anspruchsvolle Publikum wusste es ihm lautstark zu danken. Nach diesem pianistischen Presto-Sturm hätte man im zweiten Teil eigentlich ganz gerne etwas Ruhigeres, Anmutsvolles, Klassisch-Schlankes gehört. Da die Konzerte in Wien aber wie überall weitgehend vom spätromantischen Bombast dominiert werden, stand Sergej Prokofjews B-Dur-Symphonie op. 100 auf dem Programm. Sokhiev bewährte sich auch hier als umsichtiger Dirigent, der ohne Stab nicht nur für Ordnung, sondern auch für eine ansprechende Interaktion der Instrumentengruppen sorgte. Federnd und geschmeidig erklang das Allegro marcato, wohltuend elegisch setzte das Adagio ein, und die Cello-Kantilenen des Schluss-Satzes gerieten zu klangsinnlichen Höhepunkten.

Und doch war man nach einer knappen Stunde von Klang gewordenem sozialistischen Realismus (Prokofjew schrieb sein Werk kurz vor Kriegsende 1945) dankbar für ein wenig Heiterkeit auf den Straßen im herbstlich besonnten Wien. Und dafür, dass Prokofjews Landmann Dostojewski seine epische Welt gedanklich mehrstimmiger und skeptischer anlegte. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelte die Aufführung seiner „Dämonen“ am Burgtheater, die im November 2022 in der Regie von Johan Simons Premiere hatte. Aus dem knapp 900seitigen Roman (1872/73 zuerst veröffentlicht) wird am Burgtheater ein vierstündiger Abend in der Fassung von Sebastian Huber. Er ist zu kurz, um alle Verwicklungen der Handlung deutlich werden zu lassen, so dass am Ende das vielfältige Geflecht der Figuren nicht recht nachvollziehbar erscheint. Aber Johan Simons gibt den im Roman angelegten gesellschaftlichen Diskursen breiten Raum zur Entfaltung. Unterschiedlichste Weltanschauungen und politische, ästhetische, religiöse Diskurse werden auf der Bühne entfaltet, die bei Nadja Sofie Ellers aus einem goldenen Kasten besteht, in dem Stühle unterschiedlichster Epochen so bunt zusammengewürfelt herumstehen wie die Gedanken, die hier ventiliert werden. Ein solcher Abend könnte furchtbar zäh und theoretisch sein (und manchmal ist er es auch tatsächlich) – aber die Schauspieler machen in Simons Regie ein echtes Theaterereignis daraus. Maria Happel gibt eine kurz angebundene, äußerst pragmatische Warwara, die nicht zögert, andere Menschen nach ihrem eigenen Gusto miteinander zu verheiraten. Diese Art des Schutzes lässt sie auch Stepan angedeihen, den Oliver Nägele als bald lächerlichen, bald imponierenden Ästheten darstellt, der den Kontakt zu den Härten der Realität weitgehend verloren zu haben scheint. Umso drastischer will Jan Bülow als kaltschnäuziger Pjotr seine halbgaren revolutionären Ideen verwirklicht sehen und ist dafür auch bereit, über Leichen zu gehen. Mit kühler Ironie und ihrer unverkennbaren dunklen, ein wenig angerauten Stimme steht Birgit Minichmayr als Lisa alledem entgegen. Ihre Reitgerte markiert einen Herrschaftsanspruch ganz eigener Art. Nur Nikolaj lässt sie nicht kalt, obwohl Nicholas Ofczarek die Rolle mit zumeist sehr kleinen Gesten und kühlem Ton anlegt. Sein großer Monolog zur Eröffnung des zweiten Teils wird so zum bannenden Höhepunkt des Abends: Wie Ofczarek von der Affäre mit einem vierzehnjährigen Mädchen erzählt, das sich schließlich im Kummer zu Tode bringt, besticht gerade durch die Zurückhaltung des Schauspielers, der mit kleinen Akzenten, mit einem kurzen Zögern und Innehalten sein Inneres preisgibt. Eine starke Ensemble-Leistung, die in Erinnerung bleibt. Und Themen, die zum Gespräch, zum Austausch, zur Kritik einladen: Für einen Theaterabend unserer Tage ist das sehr viel