Dass in diesem Jahr Beethovens Neunte auf dem Programm stand, wäre im Beethoven-Jahr eigentlich auch völlig normal, wenn dieses Jubiläum eben nicht zu weiten Teilen der Pandemie zum Opfer gefallen wäre. Das Orchester wurde von ihr in München eingeholt, wo es im März seinen Beethoven-Zyklus mit Andris Nelsons spielte. Nach der Schicksalssymphonie musste die Reihe Anfang März abgebrochen werden – und dann erlebten die Philharmoniker die längste Spielpause in ihrer fast einhundertachzigjährigen Geschichte! Selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es nur wenige Tage bis zum ersten Konzert in Friedenszeiten gedauert. Jetzt brachte Corona den Klangkörper monatelang zum Verstummen.
Niemand hat gewusst, wie sich diese Pause auf den Klang und aufs Zusammenspiel auswirken würde, erzählen Daniel Froschauer und Michael Bladerer, Vorstand und Geschäftsführer der Philharmoniker bei einer Melange. Als es in Wien dann im Juni endlich wieder möglich war, vor winzigem Publikum im Musikverein zu spielen, hätten sie mit Daniel Barenboim die Fünfte von Beethoven aufs Programm gesetzt – und Gott sei Dank sei alles gut gegangen. Ja, das ganze Orchester spiele seitdem und gerade jetzt in Salzburg mit ganz besonderer Frische und Freude; die Pause habe den Musikern wieder ganz neu gezeigt, wie unglaublich schön ihr Beruf doch sei.
Das konnten nun auch die tausend Zuhörer im Großen Salzburger Festspielhaus erleben. Riccardo Mutis Lesart der Neunten Symphonie steht in gewisser Weise quer zu den von der historischen Aufführungspraxis geprägten Deutungen, die sich im Laufe der letzten Jahre durchgesetzt haben. Sein Zugriff ist traditionell romantisch – und gerade darum beinahe schon wieder eine Rarität im zeitgenössischen Konzertleben. Altväterlich gelassen oder gar betulich war diese Neunte dabei mitnichten. Im Gegenteil: Muti und die glanzvollen Philharmoniker musizierten mit großer Energie, mit Hingabe und Ausdruckswillen.
Nicht als bloß atmosphärischen Klangnebel gestaltete Muti die denkbar einfachen Eingangstakte mit ihren leeren Quinten in den zweiten Violinen, den Celli und Hörnern, sondern als gut durchhörbares allmähliches Entstehen eines Motivs, das dann in Takt 17 mit voller, den Hörer überwältigender Wucht und Schicksalsschwere im Orchestertutti erklang. Bei seiner Wiederkehr in der Reprise wurde es vom machtvollen Donnergrollen der Pauken und der Bässe nicht bloß grundiert, sondern beinahe ausgelöscht, so dass die oft zu lesende Deutung, Beethoven nehme in einer Art der Selbstzerfleischung gleichsam den Triumph der Eroica zurück, plausibel erschien.
Auch das Thema des Scherzos, das zunächst leicht und huschend daherkam, gewann eine fast bedrohlich wirkende Prägnanz, so dass sich das kantable Thema des Trios in den Klarinetten und Oboen als umso deutlicherer Kontrast erwies. Präzise gelang in der Coda das rhythmisch ungemein anspruchsvolle fugenartige Stimmengeflecht. Ganz zurückgenommen und verinnerlicht gestaltete Muti dann das Adagio. Die herrlichen, weitausschwingenden samtenen Streicherkantilenen, die butterweich gespielten Hornpassagen, die sprechenden Holzbläser ertönten mit fast schon schmerzlicher Schönheit. Ein Elysium, vielleicht eine Erinnerung an paradiesische, aber vergangene Zeiten.
Dem stellte Muti das abschließende Freuden-Finale nicht als vielleicht sogar mit Gewalt zu erringende Utopie entgegen, sondern als erlebbare Wirklichkeit, ganz so, als wollten Chor, Orchester und Solisten (exquisit besetzt mit Asmik Grigorian, Marianne Crebassa und Saimir Pirgu) dem sehr schön phrasierten Bass-Apell Gerald Finleys folgen, nun angenehme und freudenvolle Töne hören zu lassen. Schlank und verhältnismäßig zügig wurde das volksliedhaft schlichte Freuden-Thema von den tiefen Streichern intoniert, noch wenig konturiert, raunend beinahe, wie eine ahnungsvolle Verheißung, die dann vom Chor der Wiener Staatsoper kraftvoll erfüllt wurde. Weil im Prestissimo-Ausklang Becken, Triangel und Piccoloflöte nicht allzu sehr akzentuiert, sondern vielmehr in den Gesamtklang des Orchesters eingebunden wurden und weil Muti den Chor dazu anhielt, Schillers Text nicht syllabisch hart zu skandieren, klang diese Neunte einmal nicht verstörend gehetzt und schrill aus. Das Publikum dankte mit enthusiastischem Applaus. Auch das eine Normalität bei den Muti-Konzerten Mitte August in Salzburg.