Wie lässt sich die Geschichte von Tannhäuser heute erzählen? Wie lässt sich sein Konflikt zwischen Sinnlichkeit und reiner Liebe darstellen? Acht Mal wurde Wagners frühe Oper bei den Bayreuther Festspielen bereits inszeniert. Tobias Kratzer legte auf dem Grünen Hügel 2019 die neunte Interpretation des Stoffes vor. Zurecht weist er darauf hin, dass bisher jede Inszenierung sich „in irgendeiner Form daran abgearbeitet“ habe, „wie der sexuelle Diskurs im ‚Tannhäuser‘ läuft.“ Zufall ist das natürlich nicht. Vielmehr steht ja gerade die Zerrissenheit der Hauptfigur zwischen Venus und Elisabeth im Zentrum der Handlung. Wagner greift damit ein Motiv auf, das im 19. Jahrhundert virulent war, nämlich die tabuisierte Sexualität und den scharfen Kontrast weiblicher Figuren, die als Huren oder Heilige erscheinen, als ‚femmes fragiles‘ oder femmes fatales‘. Diesen Themenkomplex zu aktualisieren, scheint indes kaum möglich zu sein. Denn welche Form der Erotik würde in unserer liberalen Gesellschaft noch zum Ausschluss und zur Ächtung führen? Pädophilie? Oder Inzucht? – Daran hat sich bislang kein Regisseur versucht. Gottlob – möchte man ergänzen. Was aber tun mit dieser Oper? Entweder man erzählt sie vor historischer Kulisse (was auch einmal ganz erfrischend sein könnte), oder aber man zeigt die Geschichte aus einer ganz anderen Perspektive. So machte es Tobias Kratzer.
Der Venusberg ist für ihn zwar ein Ort der Lust und Freiheit, aber nicht so sehr im erotischen als ganz allgemein im gesellschaftlichen Sinne: Dort sammelt sich ein buntes anarchisches Völkchen um Venus (Ekaterina Gubenova mit viel Spielfreude im hautengen Glitzeranzug). Eine Drag Queen im überbordenden Rüschenkleid (Le Gateau Chocolat), der kleinwüchsige Oskar (Manni Laudenbach), aber eben auch Tannhäuser folgen den markigen Parolen des jungen Revoluzzer-Künstlers R.W., die hier zum Programm erkoren werden: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen“. Diebstahl und Randale gehören dabei zum Alltag. Ein Polizist, der sich in den Weg stellt, wird über den Haufen gefahren. Das ist dann doch zu viel für Tannhäuser. Er will aussteigen und findet vorerst wirklich zurück in die bürgerliche Gesellschaft, die Kratzer als historisierende Bayreuther-Aufführung des 2. Tannhäuser-Aktes im Wartburgsaal zeigt. (Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier) Während des Sänger-Wettstreits um den Preis der Liebe entern Venus und ihre Crew den Saal, werden aber verhaftet und abgeführt. Ödnis und Resignation bestimmen dann den dritten Akt. Das flotte Mobil, mit dem Venus unterwegs war, ist ein Wrack auf dem Autofriedhof; die Trommel, die der Kleinwüchsige wie Oskar Matzerath als Symbol der Widerständigkeit beim Sängerfest schlug, wird zum Topf, in dem Dosensuppe aufgewärmt wird; die Plakate mit den aufrührerischen Sprüchen sind gerade noch gut genug, um sich mit ihnen nach eigener Notdurft den Hintern abzuwischen. Nichts bleibt von der Idee der Freiheit, des Aufbruchs und Neuanfangs als Müll und Kommerz.
In diesem tristen Ambiente richtet Elisabeth Teige als zarte und doch kraftvolle Elisabeth mit erlesenem Piano, aber leider recht starkem Tremolo ihr Gebet an die heilige Jungfrau. Wolfram, der sie liebt, steht bei ihr und leidet mit ihr und um sie. Bis sie ihn küsst. Und sogar, als er in Tannhäusers Kleidung erscheint, mit ihm im schäbigen Campingbus schläft. Trauriger und zugleich anrührender hat man diese Szene von Elisabeths Liebes-Opfer kaum je gesehen. Auch weil Markus Eiche als Wolfram das folgende „Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande“ mit feinem Legato und betörendem Schmelz ganz verinnerlicht gestaltet. Als Tannhäuser (Klaus Florian Vogt singt die Partie ein wenig kurzatmig, aber doch kraftvoll und gerade in der Rom-Erzählung klanglich und darstellerisch differenziert) sich doch wieder dem alten Venus-Leben hingeben möchte, verweist der treue Wolfram auf Elisabeths Opfer. Dass sie mit ihm intim wurde, erscheint geradezu als Voraussetzung für die Vision einer glücklichen Zukunft: Am Ende zeigt eine Video-Projektion, wie beide Arm in Arm vor sinkender Abendsonne durch waldige Landschaft fahren, befreit und glücklich.
Man muss die Ästhetik dieser Aufführung nicht mögen und kann ihr durchaus Unstimmigkeiten ankreiden (der religiöse Überbau zum Beispiel bleibt ein blinder Fleck). Interessant ist Kratzers Lesart aber unbedingt, begnügt sie sich doch nicht damit, den Sängern zeitgenössische Kostüme überzustülpen und dergleichen als moderne Regie auszugeben. Ihr gelingt tatsächlich eine Neudeutung des Stoffes.
Heutig wie die Inszenierung klingt gewissermaßen auch das Orchester unter der Leitung von Nathalie Stutzmann: Eher zügig im Tempo und präzise in der Koordination mit den Sängern, deren gelegentliche Ritardandi die Bayreuth-Debütantin flexibel aufzugreifen weiß. Aber was da bewunderungswürdig gekonnt aus dem mythischen Abgrund emporsteigt, bleibt eben auch ein wenig geheimnislos. Mehr romantische Dunkelheit, auch schärfere Kontraste zwischen den beiden von Wagner so klar konturierten Sphären hätte man sich da durchaus gewünscht. Der Jubel war am Ende dennoch groß: Für Stutzmann, für den fabelhaften Chor unter der Leitung Eberhard Friedrichs, für das gesamte Ensemble und auch für eine starke Inszenierung. In Bayreuth weiß Gott keine Selbstverständlichkeit.