Seit fünfzig Jahren ist John Neumeier Ballettdirektor in Hamburg, und fast ebenso oft durfte das Publikum zum Abschluss der Saison eine Gala erleben. Dieses Mal begrüßte der inzwischen 84 Jahre alte Meisterchoreograph sein Publikum zur XLVIII. Nijinsky-Gala, die er selbst wohlgelaunt und kurzweilig moderierte.
Eine Kette, sagt man, sei immer so stark wie ihr schwächstes Glied. Für einen Gala-Abend gilt gewissermaßen das Umgekehrte: Sie lebt von durchaus auch zirzensischen Höhepunkten, und deren gab es in jedem der drei Teile des insgesamt fast fünfstündigen Abends einige. Dabei war der 1. Teil recht bescheiden mit „Vergessene Tänze“ überschrieben und bot also vorwiegend Ausschnitte aus Werken, die sich entweder nicht im Repertoire gehalten haben oder lange nicht getanzt wurden. Auf „Orphée et Eurydice“ trifft dies indes nur bedingt zu, wurde das Werk doch erst neulich in Salzburg zu den Pfingstfestspielen aufgeführt. Auch in Hamburg faszinierte die geradezu schwebende Leichtigkeit, mit der die großartigen Solisten den Reigen seliger Geister interpretierten, allen voran Anna Laudere und Edvin Revazov. Seligkeit und Glück konnten auf wirklich herzbewegende Weise auch Alexandr Trusch und Madoka Sugai in ihrem zärtlichen pas de deux zu Max Regers Mozart-Variationen vermitteln. Wie die beiden den lieblichen Fluss der Melodien mit den Armen nachzeichnen und dabei ein leichtes, schönes Jugendglück vermitteln – man muss das mit diesen Tänzern gesehen haben! Überhaupt: Wer außer Neumeier findet derart bezwingende Ausdrücke nicht nur für das Dunkle und Grüblerische, sondern gerade auch für Schönheit und Freude? Dabei gab es natürlich ebenso ernste, ja politische Momente an diesem Abend. Sie könnten die jüngst in der FAZ an John Neumeier anlässlich einer weiteren Zusammenarbeit mit dem Bolschoi-Theater gestellte Frage, in welcher Welt er eigentlich lebe, durchaus beantworten. Zu Gast war nämlich das Ensemble des Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre of Ukraine. Es tanzte, noch ein wenig unvertraut mit dieser spezifischen Bewegungssprache, „Spring and Fall“, eine Arbeit zu Dvoraks Streicherserenade, die Neumeier dem Ensemble überlassen hat. Eine noble Geste der Verbundenheit.
Wohl etwas schwächer als der erste Teil geriet die zweite Hälfte „The Piano Ballets“, der sieben Auszüge aus Choreographien zu Klaviermusik bot. Dabei war mit „Désir“ auch der pas de deux vertreten, mit dem Neumeier 1973 in Hamburg sein Debüt gab, und dieses Stück, getanzt von Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, überzeugte auch heute noch durch eine unnachahmliche Eleganz und Musikalität, wohingegen „Shall we dance“ von 1986 als kesse Revue doch ein wenig den Geist seiner Entstehungszeit atmete.
Dass das Hamburg Ballett eine weltweit gefeierte Compagnie ist, zeigte sich vor allem im abschließenden dritten Teil des Abends, „Guests – and Finale“. Schon dessen Eröffnung mit August Bournonvilles „Blumenfest“ geriet begeisternd. Eine so beherrscht und sensationell flinke Beinarbeit, wie sie Ida Praetorius, Solistin in Hamburg, und Francesco Gabriele Frola vom English National Ballet zeigten, sieht man gewiss nicht alle Tage. Nur das (leider nicht überschminkte) große Tattoo am linken Arm des Tänzers wollte nicht so recht passen zum klassischen Tanz… Großartig dann auch die Gäste aus Japan mit Maurice Béjarts „Bhakti III“ von 1968, filigran und doch kraftvoll interpretiert von Dan Tsukamoto und Akimi Denda vom Tokyo Ballet. Das Finale bestritten dann wieder die Hamburger Tänzer – und zwar mit dem Adagio aus Mahlers 3. Sinfonie „Was mir die Liebe erzählt“. Zwar geriet hier das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Simon Hewett, das den Abend höchst achtbar bestritt, doch ein wenig an seine Grenzen (vor allem litt die Intonation), doch die immer neuen Figuren, Konstellationen und Wendungen, die Neumeiers Choreographie von 1975 auszeichnen, verfehlten ihren Eindruck nicht – zumal der Schöpfer des Werkes gegen Ende des Satzes selbst die Bühne betrat und wie ein Träumender staunend zwischen seinem erstklassigen Ensemble umherging, seine Tänzer anblickte, verweilend in Dankbarkeit und Anerkennung. Ein wahrhaft bewegendes Bild. Großer Jubel sodann – nicht nur für dieses Gala, sondern gewiss ebenso für ein reiches Lebenswerk.