Nicht ohne Verluste
Calixto Bieito transportiert Wagners Lohengrin ins 21. Jahrhundert
Berlin, 27. April 2024, Felix Senzenberger

Wagner führte in seiner Oper Lohengrin verschiedene Motive aus Mythen und Sagen zu einer Handlung zusammen. So ist die Figur des titelgebenden Helden dem mittelhochdeutschen Versepos Parzival entnommen, das Frageverbot nach seinem Name erinnert an die griechische Sage von Zeus und Semele und die Münsterszene im 2. Akt an den Konflikt zwischen Kriemhild und Brünhild im Nibelungenlied.

Für Wagner standen die darin verhandelten Motive und Bilder letztendlich für universelle Urbilder der Menschheit, für Stoffe und damit Fragen, die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigen und die stets für die Gegenwart aufgegriffen werden können.

So wie Wagner die Handlung ins frühe 10. Jahrhundert und in eine Geschichte um Heinrich den Vogler transportierte, der der liberal-demokratischen Nationalbewegung als Wegebreiter eines geeinten Deutschen Reiches galt, verlegt nun Calixto Bieito die Handlung ins 21. Jahrhundert und stellt sich die Frage, wie Lohengrin vor dem Hintergrund der heutigen Gesellschaft zu lesen ist oder wie sich die Handlung in unserer heutigen Gesellschaft spiegelt.

Dementsprechend muss Elsa von Brabant sich in einem modern wirkenden, holzvertäfelten Gerichtsaal vor der Anklage des Brudermordes verantworten, weißer Rollkäfig inklusive. Kaltes Neonröhrenlicht und sterile Bürotische fügen dem Ganzen einen Touch von Tech-Unternehmen hinzu (funktionales, teilweise willkürlich wirkendes Bühnenbild: Rebecca Ringst), ebenso die Slim-Fit Anzüge ihres Klägers Friedrich von Telramund (teils etwas leise: Wolfgang Koch) und der anderen Herren oder Röcke und Blusen der Damen (Kostüme ebenso funktional bis alltäglich: Ingo Krügler).

Dem Ernst der Lage entgegengesetzt sind hingegen einige Accessoires: So spielt Ortrud mit knallorangen Plastikautos oder zerstückelt Babypuppen, und selbst die Hochzeitstorte wirkt wie ein billiges Prop mit Lichterkette und zwei Brautfiguren, mit denen vom Heerrufer (solide: Adam Kutny), der sonst durch die drei Akte führt wie ein Talkmaster, herumgealbert wird. Auch König Heinrich (ebenfalls solide: Günther Groissböck), der über Elsas Schicksal entscheiden soll, wirkt phasenweise gelangweilt von deren Geschichte, wippt auf seinem Bürosessel herum.

Denn Bieitos Hauptthese ist, dass die heutige Gesellschaft eine von Infantilismus geprägte sei. Konsequenz seien die Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und die Sehnsucht nach jemandem, der einem sagt, was man zu tun und lassen hat. Wirft man den Blick auf einige Gerichtsverfahren oder auch politische Entwicklungen der jüngeren Zeit, so scheint diese Inszenierung also wirklich brandaktuell zu sein. Bedenkt man zudem die Thematiken der Oper, die an der real-historischen Rahmenhandlung um Heinrich den Vogler stark ins utopisch Märchenhaft-Verträumte abbiegen, scheint seine Auslegung plausibel.

Elsa steht in dieser Inszenierung symptomatisch für den Umstand einer infantilen Gesellschaft: Sie lebt in ihrer eigenen Realität, träumt sich ihren strahlenden Ritter und Retter herbei und weigert sich, Verantwortung für sich zu übernehmen. So ist sie es auch, die sich jedes Mal in ihren weißen Käfig begibt, der, wie ihre Haltung selbst, Schutz davor ist, sich auf die Umwelt einlassen zu müsssen, gleichzeitig jedoch auch zu ihrem Gefängnis wird. Sie wirkt naiv, beinahe kindlich und verträumt, wenn sie beispielsweise von der Hochzeitstorte nascht oder sich mit ihrem Brautschleier spielend darin verheddert.

Es ist schade, dass diese musikalisch großartige Partie, beeindruckend gesungen von Vida Miknevičiūtė, auf diese Weise unterwandert wird. In dieser Inszenierung wirkt die von Elsa, Lohengrin und dem Schwan verkörperte Reinheit von Anfang an als zum Scheitern verurteilt, ihr Handlungsstrang lediglich als Fiktion, weswegen sich an keinem Punkt wirklich Spannung aufbaut. Man kauft ihnen ihre Liebe und ihren Idealismus einfach nicht ab. Lediglich zum Schluss des 2. Aktes, wenn Elsa triumphierend mit Lohengrin zum Altar schreitet, scheint ein Ausbrechen aus den Intrigen und damit ein Happy End möglich – wäre da nicht Ortrud, die im Vordergrund bereits die Hochzeitstorte zerstört und damit den 3. Akt einläutet.

Ortrud tritt generell als die treibende Kraft der Oper auf, was in dieser Inszenierung noch einmal mehr nötig zu sein scheint, da sie mit ihrer Rachgier und ihrer Manipulation in alle Richtungen als die einzig komplexe und damit interessante Figur gezeigt wird und somit dafür sorgt, dass man involviert bleibt. Eine schwierige Aufgabe für Marina Prudenskaya also, die ihr meist, wenn auch nicht immer gelingt. Die stärkste Szene ist demnach auch jene im 2. Akt, wenn Ortrud sich durch Lügen in Elsas Gemach einschleicht und sich die beiden unter ihrem Hochzeitschleier gegenüber finden und abwechselnd, ineinander fallend singen. Elsa, die verträumt, durch ihren Filter auf die Welt draußen blickt „Laß zu dem Glauben dich bekehren: / Es gibt ein Glück, das ohne Reu‘!“, Ortrud, die ihre wahren Absichten versteckt, täuscht „Ha! Dieser Stolz, / er soll mich lehren, / wie ich bekämpfe ihre Treu‘! / Gen ihn will ich die Waffen kehren, / durch ihren Hochmut wird‘ ihr Reu.“

Dem profanierten Treiben auf der Bühne gegenübergestellt sind schwarz-weiße Videos (Sarah Derendinger), die zu Beginn und teilweise auch während der Akte großflächig projiziert werden. Sie zeigen einen ertrinkenden Jungen, eine Schwangere, die einen Schwan gebiert, oder in Loops abgespielte Sequenzen; Paare aus Filmen, Nahrungsaufnahme, Ausscheidungen, auch den rosaroten Panther, der stolpert, hinfällt, sich rückwärts gespult wieder aufrichtet…Vielleicht als Verweis auf tiefenpsychologische Deutungsmöglichkeiten oder die im Hintergrund und Unbewussten der Figuren hinter allem Infantilismus schlummernden Themen und Urbilder. Sie stehen beeindruckend für sich, lassen sich jedoch wie vieles an diesem Abend nicht oder nur unzureichend zu einem Gesamten verbinden.

Ein interessanter Ansatz also und durch musikalische Leistung auf jeden Fall einen Besuch wert, wenn auch ein Beweis dafür, dass sich nicht alles ohne Verluste ins 21. Jahrhundert übertragen lässt.