Langersehnt hatte an den Bühnen Bern am 15. Januar 2023 Die Walküre Premiere, zweiter Teil von Richard Wagners Ring des Nibelungen. Wieder dirigierte Nicolas Carter das Berner Symphonieorchester und führte Ewelina Marciniak Regie. Mittlerweile fügt sich der Bau, wenn es auch bei den Darstellenden mehr Kontinuität geben könnte; Robin Adams, im Rheingold ein überragender Alberich, war nur im Publikum zu sehen. Was im Dezember 2021 wie ein übergroßes Wagnis, gar eine Anmaßung wirken konnte, wonach man sich im kleinen Bern, wo es nie zuvor einen Ring gab, daran verheben müsse, hat sich mittlerweile als selbstverständlich etabliert, so souverän meistert vor allem das Orchester unter Carter diese Herausforderung, auch die Singenden stehen dem in nichts nach. Der Wagemut, sich auf eine Ring-Produktion einzulassen, wurde in Bern ein zweites Mal belohnt.
Der polnischen Theaterregisseurin Marciniak gelingt auch die Fortführung ihrer ersten Musiktheaterarbeit überzeugend – es dauert allerdings diesmal lange, bis die Qualität der musikalischen Ausführung mit dem Eindruck kongruent wird, den Regie, Bühnenbild (Mirek Kaczmarek) und Kostüme (Julia Kornacka) hinterlassen. Bis zum dritten Akt. Das war im Rheingold deutlich anders. Wer wieder einmal alle Register seines Könnens zieht und verantwortlich dafür ist, dass auch erster und zweiter Akt optisch nicht in Nibelungen-Beliebigkeit abschmieren, ist der geniale Bernhard Bieri, dessen Licht nicht nur der Musik viele Dimensionen hinzufügt und sie aufleuchten lässt, sondern auch noch dem belanglosesten Pappsteinaufbau, der da als Felsengebirge die Bühne ausfüllen soll und auf dem sich ein Tanzensemble fläzt, ein wenig Erhabenheit und Würde verpasst.
Damit sind – das trifft niemals die Musik – einige Schwellen zu passieren, ehe es im dritten Akt endlich wieder eine intelligente, frische und beindruckende Bühne mit farbigen Kostümen gibt, wie sie im Rheingold zu bewundern war. Die Anschlüsse von Bühne und Kostüm sind bis dahin recht wackelig. Hundings Heim erinnert an eine IKEA-Möbelausstellung, wo unbezogene Kissen und Decken vor offenem Kamin herumliegen; in diesem stecken hunderte Küchenmesser wie in einer besonders schlecht konzipierten Designerküche, eines davon wird sich später als Nothung herausstellen; eine Eschenholztheke oder Küchenzeile oder einfach ein Eschenstamm mit richtigem Schwert wäre kaum schlechter gewesen. Sieglinde und Siegmund werden durch Tanzende gedoppelt (Choreographie Dominika Knapik), die offenbar stärker dem Bild entsprechen, das sich Marciniak von den Wälsungen macht, als die großartig singenden und spielenden Julie Adams und Marco Jentzsch (letzterer vom Rheingold als Loge bekannt): eine junge Tänzerin mit blondierten Haaren (Marta Allocco) sowie ein noch jüngerer Tänzer (Keness Aubert), der mit blonder Mähne an Paul Richter erinnert, den Siegfried-Darsteller aus Fritz Langs Nibelungen-Verfilmung; wenn auch weniger brachial und muskulös.
Matheus França (im Rheingold als Fafner) singt einen exzellenten Hunding, als verängstigten, verletzlichen, jedoch auch rachsüchtigen Ehemann, der den Braten sofort riecht und dem gar nichts entgeht; gemeinsam mit Adams und Jentzsch füllt er den ersten Aufzug souverän aus. Der Eindruck ist trotzdem fad und eintönig. Irritierend auch die Tanzeinlagen, die anders als noch im Rheingold, wo sie etwa für das mechanische und sklavische Arbeiten der Nibelungen standen, keinerlei Bezug zur Handlung aufweisen (im Programm verbreitet Marciniak, dies alles sei „ein Bild für die Lebenserfahrung, die Siegmund bislang geprägt hat: aus der Welt ausgeschlossen zu sein und täglich um sein Leben zu kämpfen. Unfreiwillig zum Nomaden zu werden.“) Wieder gibt es die bereits bekannten bewussten Störungen und ironischen Illusionsbrechungen; als Bühnenarbeiter verkleidete Bühnenarbeiter, die nachhelfen, wenn Sieglinde das Feuer nicht richtig entfacht oder die herbeieilen, um im zweiten Aufzug den toten Siegmund von der Bühne räumen. Das alles wirkt nun allerdings, nachdem es im Rheingold noch neu und pfiffig daherkam, wie ein müdes Selbstzitat.
Auch der zweite Aufzug bleibt grau und farblos, wäre da nicht als würdiger Gegenpol zu Wotan eine ziemlich flotte Vertreterin von Ehe, Familie, Recht und Gesetz, die von Claude Eichenberger sehr attraktiv verkörperte Fricka, die auch gesanglich voll überzeugt. Diesmal trägt sie durchgehend (statt wie noch im Rheingold ein blaues) ein rotes Abendkleid. Wotan (Seth Carico) hingegen kommt noch eine Spur schlampiger daher als zuvor, hat eine helle Hausjacke an, die an etwas so Monströses wie einen gekürzten Bademantel erinnert. Gut gelingt aber die Rollenumbesetzung; dass Wotan im Rheingold mit Josef Wagner besetzt war, fällt optisch kaum auf, Vollbart und Hornbrille tun das Ihrige. Wotan wird als unterbeschäftigter Götterpapa gezeigt, fast Götteropa im Rentenalter, der sich mit Sieglinde in Kinderspielen abklatscht oder sich mit Brünnhilde High Five gibt, ein echter Quatschonkel.
Nur durch Fricka und die ebenfalls gut verkörperte Brünnhilde (Yanhua Liu), die quirlig und aufmüpfig spielt, erhält Wotan überhaupt so etwas wie Tiefe; freilich auch durch seine großartige Stimme. Brünnhilde, als einzige ihren Vater verstehend, ist es auch, die seinem Befehl entgegen handeln muss, weil sie allein ja weiß, was er wirklich will, „den Zwiespalt“ durchschauend, in dem er sich befindet. Erst im direkten Vergleich zu seiner Lieblingstochter gewinnt er an Kontur und Qualität. Das setzt die Regie gut um, Carico singt Wotan kraftvoll und stark, setzt aber auch die Gebrochenheit des nicht souveränen Herrschers ins Bild, der schon hier wünscht, das alles zu Ende geht, und wird von Liu gut begleitet. Zu Beginn ihres Auftritts liest Brünnhilde das Blutbuch des neuen Literaturshootingstars Kim de L’Horizon; Wotan linst ihr über die Schulter, dann wirft sie es etwas gelangweilt weg. Oder aber sie stemmt in bester Nibelungen-Stummfilmmanier einen Felsbrocken aus Pappmaché und wuchtet ihn zur Seite. So könnte man mit den beiden ersten Aufzügen verfahren, abtun und wegwerfen – wäre da nicht die bravourös realisierte Musik.
Das alles ändert sich schlagartig mit dem dritten Akt, und was anderswo peinlich und überambitioniert ausfallen mag, etwa die Ankunft der Walküren (am besten als Siegrune Amelie Baier und als Ortlinde Katharina Willi), die hier alle im hochbunten Sport-Dress mit Turnschuhen stecken und wiederum von Tänzerinnen gedoppelt werden, bringt auf einmal die Kraft und Selbstverständlichkeit zurück, die man über zweieinhalb Stunden vermissen musste und seit dem Rheingold als Markenzeichen dieses Berner Rings erkennen kann. Die toten Helden hopsen auf dem Trampolin und bekommen Energydrinks in Sportflaschen gereicht, und genauso flott und energiegeladen finden wir uns auf einmal wieder in der bunten, schnellen und faszinierenden Welt, die Marciniak schon im Rheingold so großartig zu schaffen verstand.
Von da an ist auch das Bühnengeschehen ein Genuss und der Qualität der musikalischen Umsetzung angemessen; besonders Wotan und Brünnhilde rücken noch einmal ins Zentrum, in tragischer Tiefe. Das sitzt und hallt lange nach. Wobei auch hier am Ende nicht alles glatt läuft. Der Feuerring, der die Schlafende schützen soll, wird zum überdimensionierten Leuchtring, der vom Schnürboden herabkommt; doch auch Brünnhilde hängt mit einem Mal kopfüber nach unten über der Bühne, ein bisschen zu viel Turnen und Sport ist das vielleicht dann doch. Zugleich gelingt es Marcianiak wieder, wie schon einmal im Rheingold, den altbekannten Stoff neu und innovativ umzusetzen und die tragische Dimension der Vater/Tochter-Beziehung, die zugleich eine tiefe Wunde zwischen Fricka und Wotan berührt, sie ist ja nicht Brünnhildes Mutter, in aller Tiefe auszustellen.
Musikalisch gibt es nichts zu kritisieren, nur staunend zu loben. Carter, in seinem zweiten Jahr als Chef-Dirigent des Berner Symphonieorchesters und Co-Leiter des Opernbetriebs, der vor diesem Berner Ring noch nie eine Wagner-Oper geleitet hatte, dirigiert, als hätte er nie etwas anderes getan. Er führt auch diese Walküre auf atemberaubende Höhen. Besonders eindrucksvoll gelingen dabei viele der später im Ring wichtigen Leitmotive (etwa Nothung oder Siegfried). Auch das Zusammenspiel mit den Sängern gelingt auf eindrucksvolle Weise. Man wünscht sich, dass Siegfried und Götterdämmerung nicht noch so lange werden auf sich warten lassen, bis sie in Bern neu zu hören und sehen sind. Der dort nun zur guten Hälfte vorliegende Ring schickt sich jetzt schon an, Geschichte zu machen.