Nurejews „Schwanensee“ am Wiener Staatsballett
Rudolf Nurejews „Schwanensee“ zum 245. Mal am Wiener Staatsballett
Wien, 13. März 2022, Christian Gohlke

Rudolf Nurejew, 1938 in der Transsibirischen Eisenbahn zur Welt gekommen und 1993 in der Nähe von Paris an Aids gestorben, gehört bis heute zu den berühmtesten Tänzern der Welt, sicher auch, weil er sich 1961 während eines Gastspiels in Paris auf spektakuläre Weise dafür entschied, nicht nach Russland zurückzukehren. Filme und Bücher erzählen davon; Nurejew ist sozusagen Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses geworden. Mit dem Wiener Staatsballett verband ihn nach seiner Flucht eine besonders enge Zusammenarbeit: Zwischen 1964 und 1988 war er in 22 unterschiedlichen Rollen insgesamt 167 Mal als Tänzer zu erleben. Außerdem kreierte er 1964 „Schwanensee“ fürs Haus am Ring, selbstredend in enger Anlehnung an Marius Petipa und Lew Iwanow. Diese Choreographie ist noch immer im Programm des Wiener Staatsballetts. Jetzt wurde sie, sorgfältig neu einstudiert, zum 245. Mal gezeigt.

Luisa Spinatelli, die seit Jahrzehnten fürs Staatsballett Bühnenbilder und Kostüme entwirft – zuletzt verantwortlich für „Le Corsaire“ (2016) und „Sylvia“ (2018) –, schuf für Nurejew eine märchenhafte Zauberlandschaft mit einem stilisierten Schloss im Hintergrund als Prinz Siegfrieds zu Hause. Geschmackvoll historisierend sind auch die Kostüme, zartfarben für den sensiblen Protagonisten, zu dessen Volljährigkeit seine Mutter (Gala Jovanovic) ein glanzvolles Fest bereitet, auf dem die geladenen Gäste mit einer eleganten Walzer-Einlage brillieren. Prinz Siegfried bleibt mit der Armbrust, die ihm seine Mutter geschenkt hat, allein zurück, und Denys Cherevychko zeigt in einem anrührenden Solo sehr eindringlich die zunehmende Ruhelosigkeit dieser Figur, ihre innere Spannung, ihre Sehnsucht, nachdem ein weißer Schwan an ihr vorübergezogen ist. Er beschließt, den Schwan zu jagen und dringt tiefer und tiefer ein in den nächtlichen Wald. Dort herrscht Zauberer Rotbart als schwarz-rot gefederter Raubvogel über die in Schwäne verwandelten Mädchen. In staunenswerter Symmetrie gestalten die Damen des corps de ballet die berühmte Szene am See mit den vier großen und vier kleinen Schwänen. Ihre Königin Odette, von Maria Yakovleva mit grazilen Armbewegungen und versierter Spitzen-Technik als zarte und von Trauer umflorte Figur charakterisiert, kann nur von einem Mann erlöst werden, der ihr bedingungslos treu ist. Cherevychkos Siegfried schwört es ihr in ungestümer Hingerissenheit und ist ihr ein sicherer und verlässlicher Partner, der präzise Hebefiguren ermöglicht. Dennoch verwechselt der Prinz am Tag darauf im mütterlichen Schloss bei der Brautschau Odile mit Odette. Dabei gelingt es Maria Yakovleva, Odile als gänzlich andere Figur zu zeichnen und ihre hinterlistige Bosheit in kleinen Gesten immer wieder durchblitzen zu lassen. Die tänzerischen Einlagen (spanisch, neapolitanisch, polnisch und ungarisch), zu denen das Fest reiche Gelegenheit bietet, gelingen den Tänzern des Wiener Staatsballetts auf technisch hohem Niveau. Aber so schön und folkloristisch farbenprächtig sie sind, – zur Begeisterung reißen sie das Publikum an diesem Abend doch nicht hin.

Die stärkste Szene steht ohnehin noch aus: Siegfrieds Tod im See, den Rotbart listig über die Ufer treten lässt. Während die blaue Seide sich bläht und zu immer energischeren Wellen sich schlägt, in denen der Prinz schließlich ertrinkt und versinkt, spielt das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Robert Reimer gewaltig auf. So beeindruckend die Klangfülle und kultivierte Klangschönheit, so sprechend viele Details an diesem Abend von den hervorragenden Musikern (Cello, Oboe, Klarinette) auch gestaltet werden, so wäre eine insgesamt etwas zartere, weniger robuste Lesart dieser farbenreichen und immer wieder melancholisch verschatteten Musik denkbar. Aber das sind kleine Einwände. Rudolf Nurejews „Schwanensee“ ist, so zur Aufführung gebracht, auch nach knapp 60 Jahren noch sehenswert.