Nüchterne Romantik und große Liebe
Herbert Blomstedt dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
München, 13. Januar 2023, Christian Gohlke

Es ist immer wieder so erfrischend wie erstaunlich, die Konzerte mitzuerleben, die Herbert Blomstedt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gibt. Blomstedt, inzwischen 95 Jahre alt, ist diesem Spitzenorchester seit langen Jahren eng verbunden. Die gemeinsamen Konzerte vermitteln ein Gefühl großer Vertrautheit und Musizierlust. Das war auch jetzt im Herkulessaal der Residenz spürbar, in dem seit langer Zeit einmal wieder sogar die Stehplätze gefüllt waren. Ja, man möchte diesen Dirigenten noch einmal erleben, zumal mit einem so ansprechenden Programm. Blomstedt muss inzwischen zwar von einem der Orchestermusiker zum Dirigentenpult geführt werden. Sitzend leitet er das Konzert jedoch mit sparsamen Gesten, aber untrüglichem Sinn für die großen Bögen und Zusammenhänge.

Schlank und klassisch in der Anmutung erklingt zunächst Felix Mendelsohn Bartholdys Violinkonzert in e-Moll, op. 64, uraufgeführt 1845 in Leipzig. Es dauert ein wenig, bis der Solist Leonidas Kavakos und das Orchester rhythmisch ganz zusammenfinden, aber der klare, eher kühle Ton des Solisten passt gut zu Blomstedts unprätentiöser Lesart. Wobei man sich von Kavakos gelegentlich einen energischeren Zugriff, manchmal auch einen größer aufblühenden Ton gewünscht hätte. So überzeugen vor allem die lyrischen und leisen Passagen. Sinnig im Tempo gelingt die weiche Überleitung zum Andante-Mittelsatz, der kantabel erklingt. Im „molto vivace“ des Allegro-Schlusses hält sich der Solist wiederum stark zurück. Aber gerade hier bietet die funkelnde, jugendliche Partie doch Raum, der lustvoll musikantisch gefüllt sein will.

Nach der Pause dann Bruckners Vierte Sinfonie, die sogenannte „Romantische“, die Blomstedt auswendig dirigiert. Der skrupulöse Komponist stellte sie 1874 fertig, überarbeitete sie dann aber mehrmals. In München wurde die zweite Fassung von 1878/1880 gespielt. Klar und direkt ertönt zu Beginn des im Tempo recht verhalten genommenen ersten Satzes der markante Hornruf über dem brucknertypischen Streichertremolo, das Blomstedt ohne mythischen Nebel spielen lässt. Getragen, aber kraftvoll gelingt der feierliche Bläserchoral als Höhepunkt eines klug disponierten Kopfsatzes. Im prachtvoll triolischen Jagdgeschmetter des Scherzos wirkt das Trio wie ein gemütvoll warmes Refugium, von der Flöte, Klarinette und Oboe klangschön gestaltet. Packend dann das Finale mit einer unerhörten Steigerung in der Coda, die sich hier organisch entwickelt und monumental entlädt. Der bewegendste Moment folgte indes nach dem Verklingen des letzten Tones: Sehr langsam, fast wie in Zeitlupe ließ Herbert Blomstedt seine Hände sinken. Das Publikum veratmete in völliger Stille, erhob sich dann einhellig und dankte im lange anhaltenden Schlussapplaus – für diesen Konzert-Abend und gewiss für das bewundernswerte Lebenswerk eines großen Dirigenten.