Russische Leidenschaft
John Crankos „Onegin“ beim Wiener Staatsballett
Berlin, 13. Mai 2023, Christian Gohlke

Premiere feierte John Crankos inzwischen zum Klassiker gewordenes Handlungsballett 1965 in Stuttgart. In Berlin ist das Werk seit 2003 auf der Bühne der Lindenoper zu sehen. Jetzt wurde die 104. Vorstellung getanzt.

Die psychologisch fein gezeichnete Choreographie Crankos überzeugt nach wie vor. Und es gelang Elisa Carrillo Cobrera und Evelina Godunova die Portraits zweier Schwestern zu zeichnen, die ganz unterschiedlich sind: Verträumt und zart Tatjana, lebenslustig und zupackend Olga. Während die eine sich in die Welt der Literatur flüchtet, feiert die andere das pralle Leben: Mädchen in zartfarbenen Kostümen und schneidige, stets zu Scherzen geneigte Burschen bevölkern die ländliche Szenerie (Bühne und Kostüme: Elisabeth Dalton) des ersten Aktes, wobei man sich von den Tänzern des Staatsballetts gerade in diesen unbeschwerten Szenen etwas mehr Schwung und Überschwang gewünscht hätte. Hier begegnet Tatjana zum ersten Mal Onegin. Er flirtet mit ihr, aber seine endlosen Pirouetten lassen ahnen, dass sein Leben buchstäblich nur um sich selbst kreist und dieser Mann sich selbst genug ist. Alexei Orlenco gibt diese Partie technisch gekonnt. Aber die blasierte Souveränität, das Spielerische fehlt seiner Darstellung ein wenig. Obwohl für hellsichtige Beobachter bald klar ist, dass mit dem eitlen Onegin keine echte Partnerschaft möglich sein wird, verliebt sich Tatjana in ihn. Überzeugend gelang die zentrale Briefszene, in der Cranko es verstand, die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte Tatjanas anschaulich werden zu lassen, indem das, was in ihrem Inneren spielt, als eine Art von Traumvision tänzerischen Ausdruck findet. So beglückend diese im Traum erfahrene Haupterhebung ist, so schmerzlich ist der Absturz in die tiefen der Wirklichkeit. Als Tatjana Geburtstag feiert, zerfetzt Onegin den Brief, den sie an ihn richtete, und macht damit ihre Mädchenträume zunichte. Der Flirt mit Freundin Olga, den Onegin nicht aus Neigung anfängt, sondern um seiner Verehrerin auch die letzten Illusionen zu nehmen, kränkt deren Verlobten Lenski derart, dass er den alten Freund zum Duell fordert. Daniil Simkin wirkte zu Beginn des Abends noch etwas unsicher, fand aber im großen Solo kurz vor dem Zweikampf im Morgengrauen poetisch Zarte Gesten. Es kommt, wie es kommen muss: Im Duell fällt der unglückliche Lenski. Jahre vergehen, bis Tatjana und Onegin sich wiedersehen. Das Mädchen ist zur Frau herangereift. Die Ehe mit Gremin ist nicht von Leidenschaft, aber von stabiler Zuneigung getragen. Das vermittelt Elisa Carrillo Cobrera und Yevgeniy Khissamutdinov als Fürst Gremin bei ihrem großen Pas de deux im dritten Akt sehr deutlich. Verändert hat sich indes nicht nur Tatjana. Auch Onegin ist nicht mehr der Alte. Aus dem blasierten Burschen von einst ist ein unbehauster Mann geworden, der nicht weit vom Hagestolz entfernt ist. Seine letzte Begegnung mit Tatjana ist der dramatische Höhepunkt des Abends. Die Rollenverteilung hat sich verkehrt: Jetzt ist Onegin der Werbende, und nur unter größter Willensanstrengung gelingt es Tatjana, ihn schließlich von sich zu weisen. Verzweifelt stürzt Onegin aus ihrem Gemach, sie bleibt im Zustand seelischer Auflösung zurück. Der Vorhang fällt. Großer Applaus für einen sehenswerten Ballett-Abend an der Staatsoper unter den Linden.