„Paradigma“ am Bayerischen Staatsballett
Das Bayerische Staatsballett präsentiert online mit „Paradigma“ einen dreiteiligen Ballett-Abend, der glücklich macht
München, 9. Januar 2021, Christian Gohlke

„Paradigma“, so heißt, kurz und ein wenig kryptisch, der neue Ballett-Abend, der eigentlich am 20. Dezember 2020 im Münchner Nationaltheater hätte Premiere feiern sollen. Möglich war eine Vorstellung mit Publikum in der aktuellen Situation leider nicht, und so entschied man sich dafür, die Neuproduktion aufzuzeichnen und den Ballett-Freunden in aller Welt durch einen Stream am 4. Januar kostenlos zugänglich zu machen.

Die drei Werke von Russell Maliphant, Sharon Eyal und Liam Scarlett ergeben gerade durch ihre Unterschiedlichkeit ein rundes Ganzes und stehen zudem beispielhaft, also paradigmatisch, für das Tanzschaffen unserer Gegenwart. Und das ist vielfältig und lebendig.

Die Zusammenstellung der drei Choreographien zeigt indes auch, wie rasch das Modische welkt und manchmal schon nach wenigen Jahren die Aura des Überlebten vermittelt, wobei gerade das jüngst Vergangene oft altbackener wirkt als das, was weiter zurück liegt und (mit Thomas Mann zu sprechen) schon ganz mit dem „Edelrost der Vergangenheit“ überzogen ist. Russell Maliphants „Broken Fall“, uraufgeführt 2003 in Covent Garden und 2012 schon einmal im Nationaltheater zu sehen, wirkt heute schon ein wenig gestrig. Ein Eindruck, der vielleicht sogar überwiegend den wenig vorteilhaften Kostümen und der eine schwer fassbare Stimmung vermittelnden Synthesizer-Musik von Barry Adamson geschuldet ist. Denn das Spiel mit heiklen Balancen und die gewagten Hebe- und Wurffiguren, die Jeanette Kakareka, Jonah Cook und Jinhao Zhang vorführen, beeindrucken als akrobatische Spitzenleistung natürlich wie eh und je.

„Bedroom Folks“ heißt die zweite Choreographie, die an diesem Ballett-Abend präsentiert wird. Sharon Eyal brachte sie 2015 mit dem Netherlands Dans Theater zur Uraufführung. Die Musik von Ori Lichtik trägt mit einem durchgehenden Beat das ganze Werk und fordert von den acht Tänzerinnen und Tänzern hohe Konzentration. Der strenge Puls lässt im Laufe einer knappen halben Stunde unterschiedliche Deutungen zu. Bald scheint er die Tänzer zu knechten und mit unentrinnbarem Zwang an ein Kollektiv zu fesseln, bald wirkt er befeuernd, so dass die Arme wie bei einer Party sich ekstatisch im Gleichtakt bewegen, und bald ermöglicht er synchrone Figuren, die an die Eleganz eines Vogelschwarmes erinnern. Intensiviert werden diese unterschiedlichen Stimmungen geschickt durch die Lichtgestaltung von Thierry Dreyfus, der im Hintergrund der sonst schwarzen Bühne immer wieder einen leuchtend orangefarbenen Streifen erscheinen lässt. So ergibt sich der Eindruck eines Organismus, der sich in ständiger Metamorphose befindet und aus dem sich gelegentlich einzelne Figuren herauszuschälen versuchen. Mit Armbewegungen, die an das starke Flügelschlagen eines Kükens erinnern, das versucht, sein Nest zu verlassen, aber noch nicht ganz flügge ist, gelingt Severin Brunhuber, der in der letzten Spielzeit als jüngstes Mitglied ins Corps de ballet aufgenommen wurde, ein intensiver Moment. Erst später löst sich der Tänzer für einige kostbare Augenblicke solistisch vom Kollektiv und setzt mit geschmeidigen Bewegungen und einem eleganten Sprung, der wie ein Zitat aus der Formensprache des klassischen Balletts wirkt, einen Kontrapunkt der Freiheit zum zwanghaften Grundbeat, dem er sich freilich doch wieder fügen muss. Ähnlich ergeht es Nicholas Losada, der sich ebenfalls solistisch abhebt und für kurze Zeit sogar so etwas wie der Anführer dieses Tanz-Kollektivs zu werden scheint. Doch am Ende stehen die acht Tänzer wieder dicht beieinander, und ihre Beine schwingen auf der sich verdunkelnden Bühne so gleichmäßig hin und her als wären sie das Pendel einer Uhr, das sich im gnadenlosen Gleichtakt bewegt.

Einen denkbar scharfen Kontrast zur rhythmischen Strenge von „Bedroom Folks“ bildet „With a chance of rain“ von Liam Scarlett, das 2014 vom American Ballet Theatre uraufgeführt wurde und jetzt zum ersten Mal in Europa gezeigt wird. „With a chance of rain“ ist die klassischste der drei Choreographien, die in „Paradigma“ vereint sind. Bühne und Kostüme, von Scarlett selbst entworfen, zeichnen sich durch dezente, fein aufeinander abgestimmte Grau- und Blautöne aus. Scarlett zeigt vier Paare in mehreren kurzen Szenen und wechselnden Konstellationen, die alle zu Préludes von Rachmaninow getanzt werden. Dass diese Arbeit in München so tiefen Eindruck hinterlässt, ist nicht zuletzt der großartigen Leistung von Dmitry Mayboroda zu danken. Der junge Pianist, der in Moskau und München studiert hat, ist seit dieser Spielzeit fest am Staatsballett engagiert. Wie feinsinnig und zart, farbenreich und stimmungsvoll er diese technisch höchst anspruchsvolle Klaviermusik zu spielen weiß, verdient jedes Lob, und das Staatsballett kann sich glücklich schätzen, einen solchen Pianisten für sich gewonnen zu haben. Im Mittelpunkt des Balletts steht das Prélude in Es-Dur op. 23 Nr. 6, zu dem Emilio Pavan zunächst mit einem Solo zu erleben ist, das ganz vom Vokabular des klassischen Balletts getragen wird. Wenn sich dann allerdings Ksenia Ryzhkova zu ihm gesellt, lässt Scarlett den beiden Tänzern viel Zeit für innige Berührungen. Sie umarmen sich, umschlingen einander zärtlich, spielen leichthin mit ihren Händen. Anmutig verbindet der Choreograph so eine traditionelle Formensprache mit Posen, die an Alltagssituationen erinnern, durch das Ausdrucksvermögen der Tänzer jedoch zur Kunst geadelt werden. Ein zarter Kuss, den Pavan bei seinem Abgang der scheu zu Boden blickenden Elvina Ibraimova auf die Wange tupft, schließt die Szene ab und leitet zugleich zur nächsten über, die von der träumerischen Stimmung des G-Dur-Préludes op. 32 Nr. 5 geprägt ist. So deutet Liam Scarlett in jeder Szene auch eine kleine Geschichte an, die der Stimmung der Musik folgt. Rachmaninows Elegie Nr. 3 in es-Moll, die melancholisch verhangen beginnt und sich ins Leidenschaftliche steigert, schließt „With a chance of rain“ ab und zeigt noch einmal Emilio Pavan und Ksenia Ryzhkova als perfekt aufeinander abgestimmtes Paar auf der Höhe seiner Kunst. Am Ende breitet Pavan seine geöffnete Hand aus und hebt sie gen Himmel, als wolle er prüfen, ob der Regen einsetzt oder ausbleibt. Hoffen wir auf sonnigere Zeiten, in denen dieser große Ballett-Abend vor Publikum im Nationaltheater getanzt werden kann. Bis dahin kann man sich mit der Aufzeichnung trösten, die auf der Seite der Bayerischen Staatsoper gegen eine geringe Gebühr abgerufen werden kann.