Drei Teile umfasst der neue Ballett-Abend in München, der den ein wenig kryptischen Titel „Passagen“ trägt und, wie es im sehr lesenswerten, von Serge Honegger verantworteten Programmheft heißt, „Phänomene des Übergangshaften“ gestalten möchte. Zwei Uraufführungen stehen dabei neben Alexei Ratmanskys „Bilder einer Ausstellung“ von 2014, die vielleicht zu einem modernen Klassiker werden könnten.
Den Anfang macht David Dawsons halbstündige Choreographie „Affairs of the heart“. Dawson, seit 2015 künstlerisches Mitglied des Niederländischen Nationalballetts, erzählt zwar keine Geschichte im engeren Sinne, aber die Tänzer sollen doch „die Energie des Herzens“ visualisieren, so der Choreograph in einem Interview, und zu Marjan Mozetichs Violinkonzert unterschiedliche emotionale Zustände ausdrücken. Die fließenden, oft kreisenden, weichen Bewegungen der präzise agierenden Tänzer und die vielen anspruchsvollen Hebefiguren, die sich durchaus am Bewegungsvokabular des klassischen Balletts orientieren, greifen die sanften Streicher-Klänge dieses Violinkonzertes in drei Sätzen auf und bilden mit dem sich farblich ständig wandelnden Bühnenhintergrund in raffinierter Beleuchtung eine ansprechende ästhetische Einheit. Die insgesamt dreizehn Tänzer (sieben Damen und sechs Herren) in schlichten taubengrauen Trikotanzügen (Kostüme: Yumiko Takeshima) treten zumeist paarweise auf, wobei Shale Wagman mit virtuosen solistischen Auftritten als energetisches Zentrum das Geschehen dominiert.
Übergänge sind im ganz wörtlichen Sinne auch für die „Bilder einer Ausstellung“ charakteristisch, empfindet Modest Mussorgski in seinem 1896 uraufgeführten Klavierzyklus doch nach, wie der Besucher einer Galerie von Gemälde zu Gemälde schreitet und so unterschiedlichsten Eindrücken ausgesetzt wird. Ratmanskys künstlerischer Ansatz ist ähnlich: Wie Mussorgski sich von den Bildern Viktor Hartmanns zu ganz eigenen Klängen inspirieren ließ, so lässt sich nun der gefeierte, in St. Petersburg geborene Choreograph von Mussorgskis urwüchsiger Musik zu seiner choreographischen Fassung anregen, ohne sie einfach tänzerisch nachbustabieren zu wollen. Wie immer nutzt er dabei das akademische Vokabular des Tanzes, zeigt schwierige Hebungen und Drehungen, formt sie aber raffiniert zu immer neuen Ausdrücken. Dabei erweist es sich als erstaunlich stimmig, dass Kandinskys Farbstudie „Quadrate mit konzentrischen Ringen“ als Hintergrund aufscheint, wobei zunächst ein Gesamteindruck, dann verschiedene Details in Projektionen sichtbar werden. Dass die Tänzer sozusagen ein Teil dieses Ganzen sind, zeigen die filigranen Kostüme von Adeline André, indem sie einzelne Farben aufgreifen und paarweise aufeinander beziehen. Kurzum: Eine meisterhafte Arbeit. Sie überzeugt, ja begeistert auch in München dank hervorragender Tänzer (stellvertretend seien hier António Casalinho, Bianca Teixera und Maria Baranova genannt) und nicht zuletzt dank Dmitry Mayboroda. In Moskau und München ausgebildet, ist der junge Pianist seit letzter Spielzeit fest beim Staatsballett angestellt. Sein Spiel ist so kraftvoll wie zart, so ausdrucksstark wie farbenreich. Auf diesem Niveau erlebt man Ballett-Musik nur sehr selten.
Einen scharfen Kontrast zu den beiden ersten Stücken bildet Marco Goeckes Choreographie mit dem Titel „Sweet bones‘ melody“ zur Musik von Unsuk Chin. Orientieren sich die farbenfrohen Arbeiten von Dawson und Ratmansky am klassischen Ballett, so findet Marco Goecke auf halbdunkler, von Nebelschwaden durchzogener Bühne einen radikal anderen Ausdruck. Nicht fließend, weich und elegant, sondern stockend, abrupt und hart muten die Bewegungen der Tänzer an: Flatternde Handbewegungen, Drehungen in absurder Geschwindigkeit, Ausdrücke der Panik, der Verzweiflung, ja der Hysterie. Die elf Tänzer des Staatsballetts agieren dabei als perfekt aufeinander abgestimmte Einheit unter Hochspannung. Jonah Cook gestaltet ein Solo von beklemmender Intensität, Shale Wagman wiederum beeindruckt mit schier unglaublicher Flexibilität und Schnelligkeit. Eine Art von Silberregen ergießt sich schließlich über die Bühne, ohne sie jedoch zu erhellen. „Es ist ein Weinen in der Welt“ – aus dem Off rezitiert eine flüsternde Stimme Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“: „Und der bleierne Schatten, der niederfällt, / Lastet grabesschwer“. Doch dann tritt António Casalinho aus dem halben Dunkel direkt an die Rampe. Der zarte junge Tänzer hält voll Anmut eine weiße Taube. Sie bewegt sich in seinen Händen. Flattert mit ihren Flügeln. Und erhebt sich doch nicht in den weiten Raum. Ein starkes Bild, das haften bleibt. Es beschließt einen abwechslungsreichen, kurzweiligen, kraftvollen Ballett-Abend mit langem inneren Nachhall.