Ein Liederabend kann schon eine irritierende Angelegenheit sein. Diese Kunst des Intimen hat es in Zeiten des Drangs zu gesteigerter Selbstdarstellung und medialer Nabelschau nicht leicht, und so trifft man bei solchen Anlässen oft auf Sängerinnen und Sänger, die sich in gekünstelten Ziergesang flüchten, in eine manierierte Zurschaustellung ihrer vokalen Mittel. Und dann gibt es solche, die sich von der Opernbühne nicht verabschieden können und auch im Liederabend opernhafte Dramatik suchen, den schnellen Applaus für Spitzentöne; sie wollen oder können sich der speziellen Situation eines Liederabends nicht ausliefern. Schließlich wären noch diejenigen zu nennen, die den großen Vorteil eines mit Kunstliedern gefüllten Programms klar erkennen und als Trumpfkarte ausspielen: eine völlig eigene Art der Beziehung zwischen Ausführenden und Publikum, eine Möglichkeit zum intimen Ausdruck und Austausch, ein Geben und Nehmen.
Marlis Petersen gehört eindeutig zu dieser letztgenannten Gruppe. Sie begreift das Kunstlied als Gattung mit einer eigenen Wirkkraft, die sich völlig natürlich ergibt. Gemeinsam mit ihrem kompetenten Begleiter, Stephan Matthias Lademann, durchmaß sie an diesem Liederabend im Rahmen der Opernfestspiele ein intelligent zusammengestelltes Programm aus Liedern von üblichen Verdächtigen wie Brahms, Strauss, Wolf, Reger, Liszt und Mahler, streute aber auch Unbekanntes von Karl Weigl, Hans Sommer und Richard Rössler ein. Besonders am Herzen lag ihr wohl der fünf Lieder umfassende Block aus der Feder französischer Komponisten, namentlich Fauré, Hahn und Duparc. Zusammengehalten und strukturiert wurde diese Abfolge durch das Thema „Innenwelt“. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Petersen hat in den vergangenen Jahren ein größeres Liedprojekt konzipiert, aufgenommen und auch mehrfach aufgeführt, das um die Verbindung aus Mensch und Lied kreist und in vier thematisch gebündelte Programme eingeteilt ist. Neben „Welt“, „Anderswelt“ und „Neue Welt“ findet man dort eben auch die „Innenwelt“, in die wir als Zuhörer am 26. Juli 2022 entführt werden sollten.
Marlis Petersen gab sich nicht damit zufrieden, die Lieder kommentarlos in den Raum zu stellen. Sie sprach mit dem Publikum und bot zu jedem der vier Blöcke, „Nacht und Träume“, „Bewegung im Innern“, „Mouvement intérieur“ sowie „Erlösung und Heimkehr“ eine kurze Einführung, redete dabei beispielsweise über die Bedeutung der geschärften Sinneswahrnehmung in der Nacht, über die Aufarbeitung von nicht offen ausgelebten Emotionen in Träumen oder auch über die besondere „Farbe der Liebe“ in der französischen Sprache.
Was für eine große Erzählerin diese Sängerin doch ist! Man hing förmlich an ihren Lippen, egal ob sie sang oder sprach, das eine ging bei Petersen völlig natürlich und selbstverständlich in das andere über. Einzelne Lieder herauszugreifen und zu besprechen, verbietet sich eigentlich bei diesem Abend, der als Ganzes so überzeugte und berührte, so stimmig und erfüllend war, dass man nur staunen konnte, wie reich man beschenkt wurde. Petersen gestaltete all diese so unterschiedlichen Lieder mit einer ungekünstelten, ausdrucksreichen Stimme, mit klarer und nuancierter Diktion, mit delikaten Übergängen, immer Wort und Musik intelligent zusammen denkend. Sie bediente sich dabei einer beeindruckenden Palette von Klangfarben: Ihr Sopran tönte mal leuchtend hell, dann wieder fahl oder dunkel, sie streichelte die Worte oder deklamierte sie bestimmt, man könnte ewig so weitermachen. Zurschaustellung oder Verklärung waren ihre Sache nicht; stets wollte sie dem Publikum etwas vermitteln, uns das Innere der menschlichen Seele zeigen. Dieser Liederabend war mehr als nur ein weiterer Termin im Festspielkalender, er löste ein, was Marlis Petersen selbst zu Beginn in Worte fasste: Es sei gerade in diesen Zeiten der Umbrüche von Bedeutung, in sich hinein zu lauschen und sich zu befragen, was im Leben wichtig sei. Dadurch, dass Petersen und Lademann so direkt mit der Zuhörerschaft kommunizierten und uns so unverkrampft und natürlich „abholten“, verlor das Kunstlied alles Künstliche und präsentierte sich als ideales Medium der Selbstreflexion, als unverfälschter Ausdruck des menschlichen Wesens. Mit einem Mal wusste man wieder, warum es Liederabende noch geben muss, warum sie ihre Daseinsberechtigung nicht verloren haben. Man muss sie nur aus dem biederen, bürgerlichen Kontext der niveau- und geschmackvollen Unterhaltung lösen und den Anschluss an die Menschen suchen. Den beiden Künstlern dieses Abends ist genau das gelungen, und man hofft inständig, dass es baldmöglichst zu einer Fortsetzung dieser musikalischen Reise kommen möge.
Eigentlich blieb nur ein Wunsch übrig: Man hätte sich nach dem Konzert am liebsten mit Marlis Petersen in gemütlicher Atmosphäre zusammengesetzt, um mit ihr über den Menschen zu reden, über die conditio humana. Bei einer Sängerin, die mit wilden Hust-Attacken während ihres Konzerts so humor- und verständnisvoll umzugehen vermag, darf man eine große Portion Lebensweisheit vermuten.