Petits „Coppelia“ am Bayerischen Staatsballett
Das Bayerische Staatsballett eröffnet seine neue Spielzeit mit einer Premiere von Roland Petits „Coppélia“ und vertut die Chance auf einen großen Wurf
München, 20. Oktober 2019, Christian Gohlke
Der Stoff ist kostbar von dem Spiel. Dahinter aber liegt noch viel“, möchte man mit Versen aus Hofmannsthals „Jedermann“ über die Geschichte von Roland Petits Ballett „Coppélia“ sagen. Der Mythos, der darin aufgegriffen wird, gehört zu den großen Stoffen der Weltliteratur und wurde zahllose Male bearbeitet. Es geht um die Erschaffung eines künstlichen Gegenübers, das alle Wünsche seines Meisters erfüllt und zugleich frei ist von allen menschlichen Makeln. Ovid erzählt in den „Metamorphosen“ davon, wie Pygmalion eine Frau aus Elfenbein schafft und sich so heftig in sein Geschöpf verliebt, dass Venus die Statue schließlich zum Leben erwachen lässt. Die Fassung des Mythos, die in der deutschen Literatur am berühmtesten ist, stammt von E.T.A Hoffmann. Dessen Erzählung „Der Sandmann“ aus dem Jahr 1816 berichtet, wie ein junger Mann sich in Olimpia verliebt, ohne zunächst zu bemerken, dass es sich um einen Automaten handelt, wobei er dessen gute Eigenschaften als Zuhörer ganz besonders zu schätzen weiß, trägt der schwärmerische Jüngling doch allzu gerne eigene Verse vor. – Der Stoff hat es, wie gesagt, in sich und wird sozusagen immer noch aktueller, wie die Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz oder auch die Erfindung von Sexspielzeugen zeigen, die dem Menschen immer ähnlicher werden.

Insofern war es eine gute Idee, die neue Spielzeit des Bayerischen Staatsballetts mit einem Werk zu eröffnen, das diese Themenkomplexe berührt. Nur ist die Fassung von Roland Petit, die 1975 in Paris Premiere hatte, dann doch allzu hübsch und harmlos. Warum muss es gerade diese Version sein? Warum keinen zeitgenössischen Choreographen mit einer Neufassung beauftragen und eine Uraufführung wagen? Das hätte doch ein großer Wurf werden können! Übersteigt das die Kräfte des Staatsballetts? Oder gibt es keinen Künstler, der sich gegenwärtig zutraut, sich des Stoffes anzunehmen?

Wie dem auch sei. Roland Petit siedelt die Geschichte in einem galizischen Dorf im späten 19. Jahrhundert an. Das Bühnenbild von Ezio Frigerio zeigt einen von einer zerfallenden Mauer eingegrenzten Innenhof, der den Blick zu einem Fenster der Wohnung des Dr. Coppélius ermöglicht. In einer Nische sitzt Coppélia, der Franz, so heißt der Jüngling in dieser Version, beständig schmachtende Blicke und Kusshände zuwirft und dabei Swanilda, die ihn liebt, mit kalter Schulter ignoriert. Der findigen Frau gelingt es, in Coppélius‘ Wohnung einzudringen. Dort bemerkt sie, dass Coppélia eine leblose Puppe ist. Als Franz erscheint, um ihr zu huldigen, tauscht sie mit dem Kunstgeschöpf kurzerhand den Platz, weshalb Coppélius‘ Versuch, ihr Leben einzuhauchen, eindrucksvoll gelingt. Der Schwindel fliegt auf, Franz erkennt seinen törichten Irrtum – und alsbald feiert man, wie es sich für eine Komödie gehört, frohe Hochzeit.

„Coppélia“ ist ein Ballett, das, nicht zuletzt auch wegen der historisierenden Kostüme von Ezio Frigerio und Franca Squarciapino, durchaus vergnüglich und eingängig ist, auch wenn Léo Delibes Musik, vom Bayerischen Staatsorchester unter der Leitung von Anton Grishanin eher breit als pointiert gespielt, auf Dauer ein wenig ermüdet. Roland Petit, dessen Stil ausgesprochen eklektizistisch ist, mischt auch hier verschiedene Genres und Traditionen. Das Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts, aber auch Elemente der Revue oder des Musical-Tanzes scheinen bei ihm durch. Die Rolle des Coppélius setzt nicht auf Virtuosität der Technik, sondern ganz auf charakteristischen Ausdruck. Hier hätte man sich von Luigi Bonino ein etwas differenzierteres Spiel mit stärkeren Akzenten gewünscht. Die Rolle des komischen und zugleich doch auch unheimlichen Alten bleibt bei ihm etwas blass. Virna Toppi, in Italien geboren und dort an der Scala zur Solistin geworden, gehört erst seit dieser Spielzeit zum Ensemble des Bayerischen Staatsballetts. Ein erfreulicher Zugang. Sie tanzt die Rolle der Swanilda mit Charme und keckem Ausdruck. Auch der aus Brasilien stammende Denis Vieira gab mit der Rolle des Franz ein stimmiges Debüt als Solist des Staatsballetts in München, wenn er wohl am Premierenabend auch nicht ganz frei war von Nervosität und manches technische Detail darum nicht ganz vollendet glücken wollte. Im Zusammenspiel der Solisten, aber auch in den Auftritten des Corps de ballets fehlte es (noch?) an einer gewissen zwanglosen Natürlichkeit und Spielfreude. Gerade die revuehaften Elemente wirkten angestrengt und merkwürdig unfrei – als ob die Tänzer unter allzu großem Perfektionsdruck eines rigiden Regimes stünden. Ein Eindruck, den man in den letzten Jahren manches Mal in München gewinnen musste. Und so hinterließ dieser Premierenabend dann doch einen etwas fahlen Nachgeschmack.