Die Zahlen sind beeindruckend : Mehr als 12000 Besucher aus aller Herren Ländern strömten in diesem Jahr zu den viertätigen Pfingstfestspielen nach Salzburg, das, 1973 von Karajan gegründet und seit 2012 von Cecilia Bartoli geleitet, eine stolze Auslastung von 98 Prozent vorzuweisen hat. Bartoli kuratiert das Festival gekonnt, indem sie es stets unter ein Motto stellt, das zwar einen thematischen Rahmen vorgibt, dabei aber nicht allzu sehr einschränkt. In diesem Jahr stand der Orpheus-Mythos im Zentrum, und gerade für Salzburg ließe sich kaum eine bessere Themenwahl vorstellen: Fand doch just hier anno 1614 die erste „Orfeo“-Aufführung jenseits der Alpen statt. Zudem spielt Monteverdis 1607 entstandene Fassung in der Entwicklung der Operngattung eine entscheidende Rolle, war es dem Komponisten durch die Wahl des mythischen Sängers als Protagonist doch gelungen, dem Publikum einigermaßen plausibel zu vermitteln, warum die Figuren auf der Bühne nicht sprechen, sondern eben singen.
So durfte Monteverdis „Favola per musica“ bei den heurigen Festspielen natürlich nicht fehlen. Nicht jedoch als Opernaufführung, sondern als Marionetten-Theater war das Werk im dafür eigentlich viel zu großen Haus für Mozart zu erleben. Eine schöne Idee, verstanden es die Künstler der Mailänder „Compagnia Marionettistica Carlo Colla & Figli“ doch hinreißend, der alten Geschichte einen ganz eigenen Charme zu verleihen. Liebevoll ausgestattete Puppen agierten in prachtvoll gemalten Kulissen derart kunstvoll und anschaulich, dass die Illusion nahezu perfekt war, zumal die Sänger und der Chor im Orchestergraben weitgehend unsichtbar blieben. Renato Dolcini bildete mit kernigem Bariton einen stimmigen Kontrast zum leichten Sopran von Carlotta Colombo als Euridice. Gianluca Capuano steuerte am Pult der nicht immer intonationssicheren Les Musiciens du Prince – Monaco einen eher forschen, vorwärtsdrängenden, aber doch differenziert aufgefächerten und kraftvollen Orchesterklang bei.
Dieser ganz der historisch informierten Aufführungspraxis geschuldete Zugriff passte freilich zu Monteverdis Musik besser als zu Glucks „Orfeo ed Euridice“ (Fassung Parma, 1769), womit diese Pfingstfestspiele am Freitag mit einer zwar nicht ärgerlichen, letztlich aber doch enttäuschenden Neuproduktion eröffnet worden waren. Dass der Abend insgesamt einen matten Eindruck hinterließ, lag indes nicht nur an Capuanos Dirigat, das hier allzu spröde anmutete und den Schmelz, das freie Atmen vermissen ließ, wohl aber in erster Linie an der Regie von Christof Loy. Psychologische Feinfühligkeit und Genauigkeit in der Personenführung – das kann dieser Regisseur wie derzeit nur wenige andere, und so gelang ihm die große Szene zwischen Orfeo und Euridice denn auch herausragend: Hier wurde glaubhaft ein ehelicher Konflikt ausgetragen, der letztlich im Tod der geliebten Ehefrau kulminiert. Mélissa Petit fand dafür den nötigen dramatischen Ausdruck, wobei ihr klarer Sopran sicher geführt und kultiviert blieb. Und natürlich war es tief anrührend, Cecilia Bartoli mit Orfeos großer Klagearie „Che farò senza Euridice“ zu hören: mit hauchzartem und doch kraftvollem Piano, das, auf langem Atem getragen, mühelos den Raum erfüllt und absolute Stille gebietet. Doch abgesehen von dieser Kernszene bleibt diese Produktion blässlich. Johannes Leiackers Bühnenraum, eine Art holzgetäfelte Lobby mit im Hintergrund steil ansteigenden Stufen, die zu einem weiß verschlossenen Portal führen, wirkte allzu beliebig. Dabei arbeitet Gluck doch mit scharfen Kontrasten: Diesseits und Jenseits wechseln sich ab, die Schrecken der Unterwelt müssten ebenso greifbar werden wie die Schönheit der elysischen Gefilde. Dafür fanden weder der Regisseur noch sein Bühnenbildner einen Ausdruck. Die Andeutungen, die es sehr wohl gibt (wie vom Sturm geschüttelte Tänzer, die Treppen hinabstürzen, einerseits, vier Damen, die vor weißem Hintergrund in Kostümen der 50er Jahre lustwandeln, andererseits) werden diesem Anspruch jedoch kaum gerecht. Dass für Loy, wie es in einem klugen Interview im Programmheft zur Produktion heißt, die Frage im Zentrum steht, „wieviel Einsamkeit ein Künstler benötigt, um kreativ sein zu können“, wobei er zwar einer Muse bedürfe, sich letztlich aber nicht ihr, sondern doch seinem Werk zuwenden müsse, wird leider in keinem Moment auf der Bühne anschaulich gemacht.
Ähnlich in der Anlage, aber weit überzeugender in der Realisation war John Neumeiers Ballett-Oper „Orphée et Eurydice“ (1774). Hier ist Orpheus (Edvin Revazov mit intensiver Rollengestaltung) ein Choreograph. Seine Ehefrau Eurydice (erst divenhaft, dann zart und anrührend: Anna Laudere) tanzt ihm als Prima Ballerina bei den Proben im Ballett-Saal auf der Nase herum, es kommt zum Streit, dann zum tödlichen Autounfall der Tänzerin. Neumeier erzählt das alles in realistischen, auch drastischen Bildern: Ein Auto kracht auf der Bühne gegen einen Baum, Sanitäter tragen die Verunglückte hinweg. Der Gang in den Hades wird dann zur Phantasmagorie des Protagonisten. Im Elysium, das dank der exzellenten Hamburger Tänzer tatsächlich von jeder Schwerkraft befreit zu sein scheint, findet Orphée nur kurz seine Ruhe: Auch hier will er ohne seine geliebte Frau nicht sein. Ihren durch seinen Blick verursachten zweiten Tod verarbeitet der Künstler in seinem Werk – und hierin wird Eurydice weiterleben. Neumeier schafft es durch diesen Kunstgriff, das nur schwer zu inszenierende „lieto fine“ der Pariser Fassung von Glucks Oper stimmig ins Handlungsgefüge einzubinden, weil er seine Entstehung selbst zum Thema macht und vorführt. Ein so eigenwilliger wie kluger Zugriff, der an Schillers Elegie „Nänie“ erinnert: „Auch das Schöne muß sterben!“ Wobei es eben einen gewaltigen Trost gibt: Nämlich das Aufgehobensein des Vergänglichen in der Kunst: „Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich“. – Ballett und Musik ergänzen sich in dieser Fassung ideal. Kazuki Yamada leitete die klangschön und lustvoll aufspielende Camerata Salzburg mit Umsicht und führte die hervorragenden Solisten sicher durch den Abend. Maxim Mironov überzeugte mit einem eher erdig grundierten, höhensicheren und stets natürlich anmutenden Tenor als feinfühliger Orphée, Andriana Chuchman gestaltet die Partie der Eurydice mit leuchtendem Sopran sehr ansprechend. Ein großer Abend, der vom Festspielpublikum zurecht gefeiert wurde. Dafür nach Salzburg gefahren zu sein, hat sich allemal gelohnt!