Als eine Person, deren persönliche Überzeugungen mit dem progressiven gesellschaftlichen Mainstream bislang weitgehend deckungsgleich waren – die Homo-Ehe ist eine Errungenschaft, das SUV als Stadtauto dagegen weniger – muteten mir diese Überlegungen jedoch immer eher theoretisch an. Oder ich bezog sie nur auf die in den letzten Jahren beständig wiederkehrende Frage, ob denn nun auch Vertreter der AfD zu Podiumsdiskussionen geladen werden sollten oder nicht. Neuerdings drängt sich mir jedoch fast täglich das unangenehme Gefühl auf, dass auch in unserer angeblich ‚entideologisierten‘ Gesellschaft bestimmte Inhalte systematisch aus dem öffentlichen Diskurs hinausgedrängt werden; weil sie ungewohnt und unbequem sind oder einfach, weil sie nicht ins große Gesamtkonzept zu passen scheinen.
Die Initialzündung zu dieser Beobachtung liegt, wie so oft, in einer unangenehmen Erfahrung am eigenen Leib. Es kündigte sich kürzlich nämlich der erste familiäre Nachwuchs an und damit einhergehend stellten sich nicht nur Fragen bezüglich Kinderwagen, Federwiege und Beistellbett, sondern auch bezüglich des Impfens. Dass dieses Thema ein, wie man so schön sagt, ‚leidiges‘ ist, war meiner Frau und mir zwar von Anfang an bewusst, doch was als eher kurzer Abgleich zwischen den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) und einigen kritischen Gegenpositionen geplant war, erwies sich als wahre Büchse der Pandora.
Nun handelt es sich bei uns weder um kategorische Impfgegner, noch denken wir quer (die Corona-Impfung etwa ließen wir uns lieber heute als morgen verabreichen) – aber eine Säuglingsimpfung gegen Windpocken? Eine im zweiten Lebensmonat vorgesehene Impfung gegen Rotaviren, die auch bei sehr ungünstigen Infektionsverläufen in aller, aller Regel nur zu ein paar Tagen Krankenhausaufenthalt führen?
Tatsächlich entwickelten wir nach bestem Wissen und Gewissen einen eigenen Impfplan, der von den offiziellen STIKO-Empfehlungen in kleinen Teilen abweicht. Von einer Impfung gegen Windpocken und Rotaviren nahmen wir Abstand, andere Impfungen verschoben wir zeitlich etwas nach hinten, weil wir unser Kind zunächst zuhause aufziehen und deswegen natürlich eine deutlich geringere Exposition vorliegt.
Mehr war es nicht. Doch mit dieser Entscheidung standen wir in einer nicht ganz unwichtigen Frage plötzlich und zum ersten Mal wirklich draußen, außerhalb des herrschenden Diskurses, fernab des gesellschaftlichen Konsens’.
Wer mit dem Strom schwimmt, spürt das Wasser um sich herum nicht – jetzt aber wurden wir unsanft herumgewirbelt und ich musste unwillkürlich an Michel Foucault denken, der wohl von einer ‚Manifestation diskursiver Macht‘ gesprochen hätte: Mehrere Kinderärzte verweigerten uns, den ‚Impfkritikern‘, schon vor dem ersten Termin jede Behandlung, obwohl die Entscheidungsgewalt und damit auch die juristische Verantwortlichkeit beim Impfen von Kindern eindeutig bei den Eltern und nicht bei den behandelnden Ärzten liegt. Als nach einigen Mühen ein Kinderarzt aufgetan war, der es uns ermöglichte, unser theoretisches Entscheidungsrecht auch praktisch umzusetzen, kam das Problem hinzu, dass auch gutverträgliche Einzelimpfstoffe inzwischen nur noch als Bestandteil von Fünf- oder Sechsfachimpfungen zur Verfügung stehen. Wer etwa die – aus unserer Sicht wichtige – Hib-Impfung möglichst früh für seinen Säugling möchte, muss also gleich einen ganzen Schwung anderer Impfungen mitverimpfen lassen. Hinzu kamen kleine, aber feine Details, wie etwa jenes, dass uns von Seiten der Krankenkasse 200 Euro ‚Bonus‘ entgehen, weil wir keine Impfhistorie nach STIKO-Maßgabe werden nachweisen können.
Am eindrücklichsten zeigt sich diskursive Macht aber immer noch im Gespräch. Nun ist das Thema Impfen bei werdenden oder frisch gebackenen Eltern zwar ein regelrechter Dauerbrenner, doch unserer Erfahrung nach geht es dabei nicht (wie in Gesprächen ja durchaus denkbar) um den Austausch verschiedener Meinungen und Argumente, sondern nur noch um Selbstaffirmation. Die staatlich finanzierten und von den großen Medien unterstützten Impfkampagnen haben inzwischen eine Mehrheitsmeinung erzeugt, die ihrer selbst so gewiss ist, dass sie sich fast vollständig gegen äußere Kritik abgeschottet hat. Dies zeitigt freilich den gewünschten Effekt: Ernsthafte, aber impfbare Erkrankungen wie die Masern sind in Deutschland inzwischen selten geworden, um von den global ausgerotteten Pocken ganz zu schweigen.
Doch um welchen Preis? Da die Bevölkerung mithilfe der Impfkampagnen nicht gebildet, sondern wie Knetmasse geformt wird, sind bei diesem Thema viele scheinbar aufgeklärte Individuen mittlerweile ebenso verbohrt-ideologisch wie die kategorischen Impfgegner auf der Gegenseite, denen wir mit unseren bescheidenen Abweichungen von der STIKO-Empfehlung nun gemeinhin zugerechnet werden.
In Die Ordnung des Diskurses beschreibt Michel Foucault detailliert solche ‚Prozeduren der [diskursiven] Ausschließung‘. in Überwachen und Strafenspricht er ergänzend von ‚dualistischen Ausschließungsmechanismen‘. Genauer heißt es dort: Die hartnäckige Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Anormalen, der jedes Individuum unterworfen ist, verewigt und verallgemeinert die zweiteilende Stigmatisierung und die Aussetzung des Aussätzigen (Seite 256 der deutschen Ausgabe).
Entscheidend ist unserer Erfahrung nach genau dieser strikte Dualismus, deren Ursprung Foucault in der mittelalterlichen Stadt begründet sieht. Die Existenz einer Stadtmauer nämlich habe solch binäre Entscheidungsmuster gefördert: Aussätzig oder nicht, wahnsinnig oder nicht, ehrbar oder nicht. Entsprechend raus oder rein, Zutritt gewährt oder Zutritt verweigert. Wie problematisch ein solcher Schwarz-Weiß-Dualismus ist und wie schlecht er einer komplexen Realität gerecht wird, zeigt Foucault unter anderem am Beispiel der Geschichte des Wahnsinns auf.
Verglichen damit ist unsere private Impfmalaise natürlich eine Petitesse, aber umso erschreckender ist es doch, dass sich auch in diesem Bereich schon ein solch hysterischer, aggressiver Dualismus breit machen konnte. Wer nicht strikt nach Vorgabe der STIKO impfen lässt, der ist nach gängiger Vorstellung ein ‚Impfgegner‘, der Impfungen aller Art pauschal ablehnt. Ein Dazwischen findet im öffentlichen Diskurs nicht statt und auch die sogenannten ‚Leitmedien‘ kennen in der Regel nur noch diese zwei Positionen. Rein oder raus beim Stadttor, aber hinter der Mauer wird ausschließlich nach unseren Regeln gespielt, Bürschchen! Und weil draußen gut hörbar die Wölfe heulen, tritt man eben schweren Herzens ein.
Dabei liegt uns nichts ferner als die Behauptung, wir hätten in der Impffrage ‚recht‘ und die mächtige STIKO ‚unrecht‘. Vielleicht irren wir uns, wie könnten wir das je ganz ausschließen? Was wir aber doch für uns in Anspruch nehmen möchten, ist, dass unsere Position zumindest als satisfaktionsfähig wahrgenommen und anerkannt wird, dass man als Minderheit also weiterhin undiskriminiert am öffentlichen Diskurs teilhaben darf.
Entscheidend ist bzgl. der Satisfaktionsfähigkeit unserer Position vor allem der Blick über den nationalen Tellerrand hinaus. Deutschland gehört zu den Ländern, in denen am aller frühesten und intensivsten geimpft wird, andere nationale Impfkommissionen geben ganz andere Impfpläne heraus, die unserem individuellen Impffahrplan teilweise durchaus ähneln. Beispiel Windpocken: Die Impfung wurde zunächst in den USA eingeführt; die STIKO hat sie dann vor einigen Jahren ebenfalls in ihren Katalog aufgenommen, wobei sogar das Deutsche Ärzteblatt das Zustandekommen dieser Entscheidung kritisch hinterfragt hat, weil der Impfanbieter die Studien selbst finanziert hat, auf denen die Entscheidung der STIKO unter anderem beruht (DÄ 2005, 102 (7): A416). Außerdem sind die Erfahrungen, die in den USA und nun auch in Deutschland mit der Windpockenimpfung gemacht werden, aus medizinischer Sicht eher ernüchternd. Eine bloße Verschiebung der Infektion vom Kleinkind- ins Erwachsenenalter ist keine Seltenheit; in diesen Fällen ist jedoch mit deutlich schwereren Verläufen zu rechnen. Zudem steigt bei ausbleibender Windpockeninfektion offenbar die Wahrscheinlichkeit, später einmal an Gürtelrose zu erkranken. Entscheidend jedenfalls ist, dass von den 19 westeuropäischen Impfkommissionen aktuell nur acht eine Windpockenimpfung empfehlen, während elf Kommissionen davon abraten!
Bei fast allen Impfstoffen weichen die jeweiligen nationalen Empfehlungen in einem solchen Quervergleich übrigens signifikant voneinander ab (wenn nicht bezüglich des Ob, dann zumindest bezüglich des Wann). Auch als Nichtmedizinier kann man somit konstatieren: Den medizinischen Forschungskonsens, als dessen institutionelle Verkörperung die STIKO hierzulande auftritt, gibt es beim Thema Impfen also gar nicht. Und beim Thema Windpockenimpfung – aber nicht nur dort – vertritt sie im internationalen Vergleich sogar eine Minderheitenposition.
Diese relativierende Perspektive wird aus dem innerdeutschen Impfdiskurs daher sehr penibel herausgehalten, auch vonseiten der großen deutschen ‚Leitmedien‘, die sich der herrschenden Diskursmacht nicht nur unterordnen, sondern sie auch selbst erzeugen. Wenn wir uns also gegen die von der STIKO empfohlene Windpockenimpfung entscheiden, dann können wir nur aufgrund eines strikten Germanozentrismus als Ewiggestrige gelten, die bestenfalls ein wenig dumm und unaufgeklärt, schlimmstenfalls gefährlich sind. Auch eine medizinische Expertengruppe der Stiftung Warentest hat 2012 von einer Impfung gegen Windpocken explizit abgeraten. Doch die Mehrheitsmeinung ficht das in ihrer aufwändig anerzogenen Selbstgewissheit nicht mehr an, solche Umstände werden einfach ausgeblendet.
Es findet im persönlichen Austausch auch kein interessiertes Rückfragen statt, auf welcher Basis unsere Entscheidung eigentlich zustande kam – als ‚Impfgegner‘ stehen wir offenbar auf der Seite des Mittelalters und mit dem Mittelalter diskutiert man nicht (man merzt es, wenn möglich, aus und wartet ansonsten, bis es endlich ausstirbt). Ein wirklicher ‚Austausch‘ findet im Gespräch also gerade nicht mehr statt, sondern nur noch ein notgedrungenes Toleriertwerden bei gleichzeitiger Minimierung des Kontakts. Trauriger Tiefpunkt war der Kommentar eines gebildeten und ‚aufgeklärten‘ Bekannten, der mit Blick auf unsere Abweichung von der STIKO-Empfehlung höchst irritiert entgegnete: „Es gibt halt einfach Dinge, die man nicht hinterfragen sollte.“
Welche Debattenkultur zeichnet sich hier ab? Wollen wir uns im 21. Jahrhundert wirklich wieder eine unfehlbare Institution zulegen, die ex cathedrazu uns spricht? Das darf man dann aber wohl auch ‚mittelalterlich‘ finden.
Dies alles, wie gesagt, nicht als schlagendes Argument für die Richtigkeit, sondern nur für die Satisfaktionsfähigkeit unserer Position. Das Impfthema ist ein schwieriges, in dem von der Sache her eigentlich die Grautöne vorherrschen, aber die herrschende Diskursmacht reduziert den Kasus mit allen Mitteln auf Schwarz und Weiß. Mit Thomas Bauer könnte man hier von einem kleinen Beispiel für die systematische Eliminierung von Ambiguität in modernen Gesellschaften sprechen.
Und damit weg von den Niederungen der Impffrage, hin zur Betrachtung der gesamtgesellschaftlichen Diskurslandschaft. Wie viele Personen, so nämlich unsere bange Anschlussfrage, müssen solche oder ähnliche Prozeduren der Ausschließung tagtäglich aufgrund ihrer jeweiligen Meinungen über sich ergehen lassen? Meinungen wohlgemerkt, die nicht etwa gegen die aus gutem Grund besonders geschützte ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ verstoßen, sondern schlicht gegen den progressiven Mainstream.
Wer das übertrieben findet, der soll sich auf der nächsten Party doch selbst einmal, ganz höflich und ernsthaft, zu einem traditionalistischen Familienmodell bekennen, bei dem nur der Mann arbeiten geht. Nur so als Experiment. Oder einmal in gebildeten Kreisen Verständnis für Brexit-Anhänger äußern. Oder einmal in einem geisteswissenschaftlichen Seminar den Umweltschutz in Deutschland als übertrieben und maßlos kritisieren. Und dann ist die Frage, ob man bloß sachlich begründeten Widerspruch erfährt oder ob nicht doch eher die Gesprächspartner mit unterschwelligem Ekel vor einem zurückweichen. Meine Befürchtung ist: Wer solches äußert, begibt sich inzwischen in akute Gefahr, diskursiv als Aussätziger behandelt zu werden.
Und so ist es das große Paradox des aktuell herrschenden progressiven Mainstreams, dass er den gesellschaftlichen Pluralismus zwar als ein wesentliches Ziel konventionalisiert hat, es bei der Herstellung eines solchen aber bloß nicht pluralistisch zugehen sollte. Für eine vielfältige und tolerante Gesellschaft sollen wir sein – aber wehe, jemand hegt dagegen Bedenken! Die Absurdität einer solchen Haltung ist eigentlich augenfällig.
Aus eben dieser Schieflage schlagen PEGIDA und AfD ihren gefährlichen Profit. Gemäß ihres empörten Dauermottos (Das wird man doch wohl noch sagen dürfen) nämlich verbinden sie eine berechtigte, konservative Kritik an der aktuellen diskursiven Ordnung mit aggressiveren Inhalten, die aus gutem Grund bislang aus dem Diskurs ausgeschlossen sind, eben weil sie gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen oder als Volksverhetzung zu klassifizieren sind. Im Zuge dieser Empörung über den eindimensionalen Diskurs werden die toxischen Inhalte der rechtsnationalen Bewegung dann gleich mit salonfähig gemacht. Gerade in seinem gut gemeinten Bekehrungseifer schwächt sich der progressive Mainstream somit gegen Angriffe von rechts außen.
Als Anhänger des sozialen Wandels ist es unangenehm, dies öffentlich konstatieren zu müssen, aber: Konservativ zu sein ist kein Verbrechen. Es muss zum Beispiel weiterhin gestattet sein, gegen die Homo-Ehe und für SUVs als Stadtautos zu sein – auch wenn ich persönlich nicht hoffe, dass sich diese Positionen im demokratischen Wettbewerb dann durchsetzen werden.
Coda: In diesem Sinne ist es dem neu gegründeten Morgenblatt von Herzen zu wünschen, dass es zur Plattform eines regen und tatsächlichen Meinungsaustausches wird und dabei Dissonanzen zwischen den einzelnen Beiträgen nicht als Störung, sondern als Bereicherung versteht.