Puccinis „La bohème“ an der Bayerischen Staatsoper
Puccinis „La bohème“ an der Bayerischen Staatsoper
München, 9. Januar 2022, Christian Gohlke

Als Puccinis „La bohème“ ein Jahr nach der Uraufführung zum ersten Mal in Wien gespielt wurde (das war 1897), empörte sich Eduard Hanslick über das neue Stück, weil der Komponist darin „den letzten Schritt zur nackten prosaischen Liederlichkeit unserer Tage“ vollzogen habe. Er wetterte gegen die „Helden in großkarierten Beinkleidern, schreienden Kravatten und zerknüllten Filzhüten“, weil er darin einen „Bruch mit den letzten romantischen und malerischen Traditionen der Oper“ sah. War dem strengen Hanslick die Szenerie – das Stück spielt im ärmlichen Künstlermilieu von Paris in den 1830er Jahren – allzu prosaisch, so störten sich andere wiederum am Melodienreichtum, mit dem Puccini die schlimme Geschichte von Rodolfo und Mimi erzählt: süßlich, kitschig, ja verlogen sei diese Musik. Weder der eine noch der andere Vorwurf verhinderten den Erfolg dieser Oper. Sie gehört zu den meistgespielten Werken des sehr kleinen Repertoires, das die Spielpläne der Musiktheater in aller Welt ausmacht. Schon Thomas Mann widmete in seinem berühmten Musik-Kapitel „Fülle des Wohllauts“ der „Bohème“ im „Zauberberg“ einen eigenen Abschnitt. „Zärtlicheres“, heißt da darin, „gab es auf Erden nicht“ als „diese bescheidene und innige Gefühlsannäherung“ zwischen Rodolfo und Mimi, als sein „‘Da mi il braccio, mia piccina‘ und die simple, süße, gedrängt melodische kleine Phrase, die sie ihm zur Antwort gab“.

Dass „La bohème“ bis heute die Zuschauer ergreifen und rühren kann, war jetzt in München bei einer ganz gewöhnlichen Repertoire-Vorstellung zu erleben, – die dank einer sehr guten Besetzung eben doch nicht ganz gewöhnlich war. Francesco Lanzillotta, geboren und ausgebildet in Rom und bis heute vor allem in Italien (Venedig, Neapel, Turin, Mailand) tätig, stand erstmals am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Sein Debüt gelang großartig. Lanzillotta legte mit einer klaren Zeichengebung großes Gewicht auf ein präzises Zusammenspiel, ohne aber je pedantisch trocken zu wirken. Immer wieder ließ das hervorragende Staatsorchester unter seiner Führung den Klang warm und mächtig aufblühen, verdeckte die Sänger dabei aber kaum je. Und die durchweg gute Besetzung konnte sich auf die exakte Führung des Dirigenten verlassen.

Nicht nur musikalisch, auch szenisch war dieser Opernabend gut einstudiert. Durchaus keine Selbstverständlichkeit bei einer Produktion, die in der Regie von Otto Schenk im fernen Jahr 1969 Premiere feierte. Doch abgestanden oder verstaubt wirkte die Aufführung in den jahrzehntealten detailverliebten Kulissen und Kostümen von Rudolf Heinrich keineswegs. Das Ensemble war mit großer Spielfreude bei der Sache. Anrührend zart gelang zum Beispiel die große Begegnung zwischen Rodolfo und Mimi, die in die ärmliche Mansarde der Künstlerfreunde über den Dächern von Paris kommt, um ihre erloschene Kerze entzünden zu lassen – und dabei selbst Feuer fängt, als Rodolfo im Dunkeln ihr eiskaltes Händchen ertastet. Evan LeRoy Johnson singt diesen Part mit markantem, metallisch grundiertem Tenor, der nicht nur zu dramatischen Spitzen in der Lage ist (wie etwa, wenn er sich Mimi als Poeten vorstellt), sondern auch zu leisen und zarten Tönen. Stimmlich harmonierte Johnson sehr schön mit dem Sopran von Rachel Willis-Sørensen. Sie gestaltete die Rolle der Mimi durchaus farbenreich und differenziert, und das anfangs noch störende, flackernde Vibrato legte sich im Laufe des Abends. Dennoch wäre eine süßere, weniger scharfe Stimme für diese Partie vielleicht angemessener – auch im Kontrast zum hohen Sopran der Musetta. Emily Pogorelc hat in dieser Rolle vor dem Café Momus, wo die Freunde um Rodolfo gemeinsam mit Mimi ihren Weihnachtsabend verbringen, ihren großen, exzentrischen Auftritt. Nicht nur pisackt sie mit ihren Kaprizen ihren reichen Galan Alcindoro (Martin Snell), sie peinigt überdies den eifersüchtigen Marcello (Roman Burdenko mit geschmeidigem Bariton), der sie noch immer liebt.

Mit dem bunten Treiben im nächtlichen Quartier Latin kontrastiert die Ausstattung des dritten Bildes scharf. Im trüben Licht des frühen Morgens fällt der Schnee auf entlaubte Bäume, ein Wirtshaus ist angedeutet, ebenso ein Zaun mit Wachtposten an der Barrière d’Enfer, einer der Zollschranken von Paris. Noch immer verströmt Rudolf Heinrichs Ausstattung viel Charme und bildet einen historisch akkuraten und niemals störenden Hintergrund für das lebendige Spiel der Sänger: Während Rodolfo und Mimi doch wieder zueinanderfinden, zerstreiten sich Musetta und Marcello, dass die Fetzen fliegen. Erst im vierten Bild, das die Protagonisten wiederum in der Mansarde der Künstlerfreunde versammelt, werden alle Zwistigkeiten angesichts des bevorstehenden Endes der armen Mimi hinfällig. Musetta lässt ihre Ohrringe veräußern, um der Sterbenden einen letzten Wunsch zu erfüllen, und Colline (mit kraftvollem Bass: Nicholas Brownlee) nimmt Abschied von seinem Mantel, den er ins Pfandhaus zu bringen bereit ist. Doch jede Hilfe kommt zu spät. Ganz leise und bescheiden verstirbt Mimi. Jetzt zeigt sich erneut die Kunst des Dirigenten, Atmosphäre und Dramatik zu erzeugen: Das unheildrohende Streichertremolo schlägt um in einen gewaltigen Ausbruch des von den Bläsern dominierten Orchesters, als Rodolfo den Tod seiner Freundin erkennt. Große Gefühle. Und großer Beifall für einen großen Opernabend in München.