René Jacobs mit Haydn und Mozart in Gstaad
RIAS Kammerchor Berlin und Freiburger Barockorchester unter René Jacobs mit Haydns „Paukenmesse“ und Mozarts „Requiem“ zur Eröffnung des 66. Gstaad Menuhin Festivals
Saanen, 15. Juli 2022, Bernhard Metz

«Wien» – Beethoven delayed ist das Motto des 66. Gstaad Menuhin Festivals, das am 15. Juli 2022 in Saanen eröffnet wurde; verspätet, da das Konzertprogramm zum Beethoven 250-Jubiläum Kosmos Beethoven pandemiebedingt 2020 nicht stattfinden konnte und auch das 2021-Programm auf London – A European Music City festgelegt war. 2022 wird nun alles auf Beethoven ausgerichtet sein, bis 3. September, in über 65 Konzerten, mit Berühmtheiten von Sol Gabetta über Jonas Kaufmann zu Andreas Ottensamer, auch Stars von morgen im „Jeunes Étoiles“-Programm. Darunter die Auftragskomposition von Georg Friedrich Haas, „Was mir Beethoven erzählt“, die 2020 in Gstaad uraufgeführt hätte werden sollen, was nun im September 2021 in Basel geschah. Beethoven delayed.

Artistic Director Christoph Müller liefert klug informiert eine spaßige Rechtfertigung für diese Verspätung: So lautet eine unorthodoxe Annahme, Beethovens Geburtsort sei nicht Bonn und der Taufeintrag vom Dezember 1770 auf seinen verstorbenen Bruder zu beziehen, sein richtiges Geburtsdatum sei 1772 und der Ort dazu das holländische Zutphen, wo sich die Eltern damals aufhielten. Zumindest Ludwig van war davon zeitlebens überzeugt. Beethovens 250. Geburtstag demnach 2022! Was deutsche Musikpatrioten schaudern macht, ist in der Schweiz gut genug für ein Schmunzeln: „Se non è vero, è ben trovato“.

Allerdings wurde per Pressemitteilung am 30. Juni mitgeteilt, dass die zur Festival-Eröffnung vorgesehene Missa Solemnis wiederum nicht aufgeführt werden könne, da – bedingt durch die beiden Krisen der Gegenwart – eine Programmänderung erfolge, Haydn und Mozart statt Beethoven: „Eine Konzerttournee von René Jacobs mit dem Freiburger Barockorchester musste kürzlich pandemiebedingt vorzeitig abgebrochen werden. Aufgrund der Geschehnisse hat René Jacobs in Abstimmung mit den Leitungen des RIAS Kammerchors und des Freiburger Barockorchesters beschlossen, die kommenden Konzerte mit vergrössertem Abstand auf der Bühne durchzuführen. Die beschränkten Platzverhältnisse in der Kirche Saanen verlangen daher eine Reduktion der Besetzung und damit eine Änderung des Programms.“

„Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und mit Rücksicht auf das aktuelle Weltgeschehen hat Rene Jacobs ein neues Programm mit Joseph Haydns Missa in tempore belli («Messe in Zeiten des Krieges») sowie dem ergreifenden Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart (in einer neuen Fassung von Pierre-Henri Dutron) zusammengestellt, welches einen würdigen Beitrag zum Auftakt des 66. Gstaad Menuhin Festivals unter dem Motto «Wien» darstellt.“ Umso besser, darf man im Nachhinein sagen.

Auch wenn Jacobs mit dem Freiburger Barockorchester und dem RIAS Kammerchor in den letzten Jahren Haydn vielfach aufführte und einspielte und damit der historischen Aufführungspraxis wichtige Impulse gab, etwa Die Schöpfung oder nur mit den Freiburgern Die Jahreszeiten, war die Paukenmesse, Haydns Messe Nr. 10 bzw. Missa in tempore belli in C-Dur (Hob. XXII:9) bislang nicht darunter. Umso erfreulicher, dass sie am 15. Juli sowie am Folgetag aufgeführt werden konnte, und hoffentlich auch im Archiv des Menuhin-Festival nachzuerleben sein wird; verdient hat diese Interpretation es. Auch Jacobs’ eigenwillige Interpretation des Mozart-Requiems, obschon die Aufnahme dazu etwas zurückliegt, ließ sich unter so exzellenten Bedingungen gut nachhören (versprochen ist eine Archivierung unter https://www.gstaaddigitalfestival.ch).

Unabhängig vom Zeitbezug (der so stark nicht ist: Haydn befand sich 1776 in Eisenstadt nicht selbst in einer Kriegssituation, Europa war es seit Jahren; die Paukenverwendung etwa anfangs im Kyrie oder zum Schluss im Agnus Dei hat wenig Militaristisch-Bellizistisches; obwohl sich Napoleon Wien damals bedrohlich angenähert hatte, ist es eben kein Schlüsselwerk zum Krieg) passt diese Messe musikalisch doch bestens zu Beethoven, der nicht zuletzt Haydn erhebliche Karriereanschübe verdankte. Sie passt zur entfallenen Missa Solemnis, wozu es etliche Parallelen gibt. Jacobs scherte sich wenig darum, bei Haydn schon Beethoven oder ihn etwa auch im Mozart durchtönen zu lassen oder gar – Mozart starb 1791 über dem Requiem – Beethoven als Erben Mozarts aufzubieten.

Jacobs lässt alles deutlich artikuliert präzise intonieren. Dirigiert selbst im Sitzen, ohne Stab, was aber nicht die Ernsthaftigkeit stört oder zu einer hemdsärmeligen Haltung führt. Die Partituren sind sichtbar durchgearbeitet und mit Annotationen versehen. Es ergibt sich stellenweise der Eindruck, einer intimen Aufnahme- oder Studiosituation beizuwohnen. Spätestens aber bricht der Aufführungscharakter durch, als die vier Solisten Birgitte Christensen (Sopran), Sophie Harmsen (Mezzosporan), Maximilian Schmitt (Tenor) und Johannes Weisser (Bass) ihre Einsätze haben: Brachial laut, dabei hochkonzentriert, präsent, extrem gut aufeinander eingestellt. Das ist nicht erstaunlich, weil es sich bei allen um erfahrene Bühnenprofis handelt, die sich in so vielen anspruchsvollen Opernproduktionen bewiesen haben, dass ihnen das abverlangte Rampensingen als Ruhepause vorkommen muss.

Zugleich schonen sie sich nicht, liefern keinen Schlendrian, sondern legen alles hinein, sind auch als Quartett und in den gemeinsamen Partien bestens aufeinander bezogen. Eindrucksvoll gerät etwa Weisser sein Part im Qui tollis peccata mundi; was für eine volle, dabei nie gequälte oder überanstrengte Stimme! Auch Christensen brilliert, Harmsen ist anfangs etwas verhalten, steigert sich dann aber enorm, auch Schmitt ist ein überragender Sänger. Die Zusammenarbeit mit Chor und Orchester gerät traumwandlerisch gut, es wirkt alles mühelos, unaufgeregt, unangestrengt und leicht. Zugleich bleiben Traditionen: Die Solisten stehen vorne, sind nicht in den Chor integriert, der hinter den Instrumenten positioniert und für historisch informierte Ensembles eher groß, mit über 30 Sängern, besetzt ist. Zur Aufführungssituation zählt auch, dass der Querflötist oben von der Kanzel herab zu vernehmen ist – und alle unvorhersehbaren Momente: Einmal reißt einem Geiger die Saite; hinter Harmsen und Christensen fällt etwas um, beide schrecken auf; wie die Musiker auf all das reagieren, mit Lachen, guter Laune und größter Souveränität, zeigt ihre über Jahre hinweg erworbene enorme Professionalität als bestens aufeinander eingespieltes Ensemble (es wurde 1987 gegründet). Das ist schön zu sehen und mehr noch zu hören.

An Besonderheiten gibt es zwei fünfsaitige Bässe oder zwei Bassetthörner im Mozart-Requiem; dort auch die fürs Tuba mirum benötigten Posaunen. Die Kompositionen von 1791 und 1796 greifen, obwohl anachronistisch gereiht, erstaunlich gut ineinander. Das Mozart-Requiem KV 626 nun, anderswo alleine abendfüllendes Kunstwerk, führt Krieg und Pandemie weiter fort und zu einer würdigen Haltung gegenüber allen Toten: Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis. So traurig der Anlass, so triumphal die Aufführung von Mozarts unvollendetem und an sich ruinengleichem Werk, das in seiner bis heute gängigen Vervollständigung durch Franz Xaver Süßmayr weltberühmt ist, aber doch spätestens ab dem Sanctus nicht von Mozart stammt. Wobei sich Jacobs nicht als (mittlerweile auch nicht mehr junger, er ist Jahrgang 1946) wilder Repräsentant alter Aufführungspraxis zeigt und nur spielt, was als gesichert gelten kann und sonst abbricht; er zeigt sich innovativ und lösungsorientiert. Aufgeführt wird eine neue Rekonstruktion, die vom vertrauten (und oftmals kritisierten) Süßmayr-Rekonstrukt erheblich abweicht.

Der französische Komponist Pierre-Henri Dutron, Absolvent der Schola Cantorum Basilensis, stellte sie 2016 nach intensivem Quellenstudium und langjähriger Materialsichtung vor, vertrat deutliche Abweichungen von der kanonischen Fassung Süßmayrs, die zugleich problematisch ist (es gibt zwei Dutron-Fassungen, eine Süßmayrs Ergänzungen konservierende „Süßmayr Remade“, eine radikalere „Mozart Extended“).

Fesselnd ist, wie Jacobs mit seinen Solisten, dem phänomenal guten Orchester und dem großartigen Chor, Unvereinbares zusammenbringt. Oft sind historisch und thematisch ‚richtige‘ Aufführungsorte in Sakralräumen gerade diejenigen, wo es an der Akustik hapert, die Stimmen dünn ausfallen oder zu viel Hall zu einer blutleeren, körperlosen, zugigen Aufführung führt. Während akustisch perfekte Konzerträume, die allen Erfordernissen und Bedürfnissen der Musik gerecht werden, ebenfalls Ungenügen aufkommen lassen, was die Rahmung besonders sakraler oder auch alter Musik angeht. Die Messen Haydns und Mozarts hatten sakral-liturgische Funktion, wurden dafür komponiert und in diesem Rahmen aufgeführt, folgen etwa dem genauen Wortlaut der Liturgie. Und sind zugleich mehr als nur geistliche Musik mit Funktionsbestimmung, sondern Kunstwerke für sich. Das bringt Jacobs auf eine – wenngleich säkular orientierte – Weise zusammen. Die kleine Mauritius-Kirche in Saanen mit ihrer hölzernen Einrichtung ist dafür der perfekte Ort.

Das macht die Messen Haydns und Mozarts besonders als Eröffnungskonzert für ein Beethoven delayed-Programm zur optimalen Wahl. Natürlich hält die Hausherrin der Mauritius-Kirche, Pfarrerin Marianne Kellenberger, eine kurze religiös getönte Einführung; eine noch kürzere kommt vom Festival-Präsidenten Aldo Kropf.

Es ist nicht das hohepriesterhafte Zelebrieren bedeutender Musik, auch nicht die musikalische Betroffenheitsrhetorik, wie sie zu Beginn des Ukraine-Krieges so oft bei musikalischen Sonderveranstaltungen spürbar bzw. offen ausgesprochen wurde, sondern eine trotz bewussten Zeitbezugs kompromisslose und zugleich zeitlos klassische Musikpraxis, die vorgeführt wird. Das macht viele der Aufführungen und Einspielungen von Jacobs so interessant und ist auch in Saanen anzutreffen. Er bringt Innnovationen ein, die unbedeutend erscheinen, sich dann aber verdichten zu einer frischen, klugen, überzeugenden Interpretation. Es ist weniger der Gestus, dass etwas so und nicht anders aufgeführt gehört, sondern eine selbstverständliche, in sich stimmige und durchgehend spielerische Aufführungspraxis, die alle Mitwirkenden einbindet, zugleich angreifbar, diskussionswürdig, offen bleibt; nicht autoritär verkündet und totalitär verheißt, sondern pluralistisch ausfällt.

Das ist mit Blick auf die beiden Krisen Krieg und Pandemie, die auf die Programmgestaltung einwirkten und oft eine Frage der Herrschaft über Meinungsbildung und Deutungshoheit waren, bedeutsam und überzeugend. Im Verbund mit den Freiburgern und dem RIAS Kammerchor nicht als Absolutheitsanspruch alter Musik, der gegen jede Musikalität und Tradition durchgesetzt wird, weil jemand nach maximalem Studium alles besser weiß als alle anderen. Religiös unmusikalisch kann man schon sein, aber nicht so unmusikalisch, um nicht wertzuschätzen, was dem RIAS Kammerchor Berlin, dem Freiburger Barockorchester und Christensen, Harmsen, Schmitt und Weisser unter Jacobs an diesem Abend gelingt. Das Publikum verhält sich entsprechend, jubelt lange und enthusiastisch, wie es zuvor gespannt und maximal konzentriert zuhörte. Es spielt die Zeit keine Rolle mehr, wenn alles andere stimmt. Just right in time. Ein gelungener Auftakt.