Salzburger Sommer
Ein Streifzug durchs Festspielprogramm
Salzburg., 17. August 2025, Christian Gohlke

Nein, als besonders glanzvoll wird dieser Sommer wohl nicht in die Annalen des Festspielprogrammes eingehen. Dafür fehlt es an echten Höhepunkten. Dennoch gibt es im eher lauen Spielplan Lohnendes zu entdecken.

Dass gerade in Salzburg eine Belcanto-Oper als wichtigste Premiere der Saison gehandelt wird, ist jedenfalls bemerkenswert, gab es bei den Festspielen doch seit Jahrzehnten keine Oper von Bellini oder Donizetti zu sehen. Belcanto ist heikel, denn der Erfolg einer solchen Oper steht und fällt ganz mit der Besetzung: Sind etwa in „Maria Stuarda“ die beiden Titelpartien ideal besetzt, ist der Abend gerettet; hat man dabei hingegen Abstriche in Kauf zu nehmen, wird immer ein Gefühl des Ungenügens bleiben. Leider war dies in Salzburg der Fall. Natürlich, Lisette Oropesa hat eine schöne, farbenreiche Stimme, die lyrisch weich fließen, sich aber auch dramatisch zuspitzen kann. Zudem gestaltet die amerikanische Sängerin ihre Rollen klug – das gilt auch für die Titelpartie in Donizettis „Maria Stuarda“, die 1835 in Mailand uraufgeführt wurde. Aber ihr fehlt die letzte dramatische Attacke, die ihre Darstellung durchdringend und mitreißend werden ließe. Jedenfalls bleiben im Großen Festspielhaus die Spitzentöne zu flach; den Höhen fehlt ein gewisser Furor. Da es ihrer Kollegin Kate Lindsey in der Rolle ihrer Rivalin Elisabetta ähnlich ergeht (wobei sich Lindsey mit der Partie insgesamt deutlich schwerer tut als Oropesa), so liegt der Verdacht nahe, die akustische Distanz, die sich vermittelt und die natürlich ziemlich erkältend wird, könnte dem offenen Bühnenbild geschuldet sein. Verantwortlich dafür ist Ulrich Rasche. Er hat – wieder einmal – eine Maschinerie kreiert, die den Sängern ständige Bewegung abverlangt. Dieses Mal sind es zwei in sich rotierende Scheiben, die sich einander mal gefährlich annähern, mal größere Distanz gewinnen. Eine dritte kreisrunde Fläche schwebt darüber und dient auf derschwarzen Szenerie als Beleuchtung oder als Projektionsfläche für allerlei recht beliebig bleibender Bilder. Sie finden ihre Entsprechung in einem Bewegungschor, der mit den Protagonisten auf der Bühne rhythmisch dahinschreitets, zunächst bekleidet, später, hübsch anzusehen, fast nackt. Nun kann man in diese Maschinerie allerlei hineinlesen: Das schicksalhafte Aufeinander-Zustreben zweier feindlicher Sterne; der ausweglose Zwang eines hermetischen Machtapparates; die Fatalität des Lebens. Allein: Das Libretto von Giuseppe Bardari hat aus Schillers Vorlage den politisch-gesellschaftlichen Kontext so ziemlich getilgt und eine eher schlichte Dreiecks-Liebesgeschichte übriggelassen. Insofern passte Rasches Ansatz eher zu Schillers Tragödie als zu Donizettis Belcanto-Oper. Was bleibt, ist der Eindruck des Dekorativen. Präzise einstudiert, handwerklich gut gemacht (sieht man einmal von den störenden Nebengeräuschen der monströsen Bühnentechnik ab), aber letztlich ziemlich seicht. Dass die Aufführung nicht recht zündet, liegt allerdings gar nicht zuletzt auch an Antonello Manacorda am Pult der Wiener Philharmoniker. Der Dirigent präferiert einen eher ruppigen Klang, wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn damit die nötigen dramatischen Impulse für das Bühnengeschehen gesetzt würden. Und daran fehlt es entschieden. Viel zu wenig befeuert der Dirigent den insgesamt doch enttäuschenden Abend.

Dass Grigory Sokolov, gerade 75 Jahre alt und mit der Goldenen Nadel der Festspiele geehrt, im ersten Programmteil seines 19. Solokonzertes in Salzburg ganz im historischen Umfeld der Oper bleibt, ist ein schöner Zufall: Die Werke von William Byrd (um 1540 bis 1623) sind am Hof von Königin Elisabeth I. entstanden. In England gilt Byrd, ein unmittelbarer Zeitgenosse Shakespeares, bis heute als „Vater der Musik“. Gespielt hat man seine Stücke damals auf einem Virginal – Sokolov nutzt natürlich einen modernen Steinway, und obwohl er nicht versucht, den Klang des Originalinstrumentes zu imitieren, ist frappant, wie anders sein Flügel klingt, wenn er diese alte Musik spielt: hell und transparent, zart und durchhörbar. Die vielen Verzierungen und Triller entfalten sich unter seiner technischen Meisterschaft bewundernswert klar, und doch dürfte für die meisten Besucher der zweite Teil des Konzertes die Hauptsache gewesen sein. Dann nämlich gab Sokolov im Dämmerlicht des ausverkauften Festspielhauses seine Interpretation von Brahms‘ „Vier Balladen“ op. 10 und der „Zwei Rhapsodien“ op 79 zum besten. Es ist ein grüblerischer, nachdenklicher Brahms, der durchaus Härten kennt. Unerbittlich arbeitet Sokolov im d-Moll-Andante mit seiner linken Hand die Figurationen der Bass-Linie heraus, die unter der Hauptmelodie bedrohlich brodeln. Eine ähnliche Spannung entsteht im h-Moll-Agitato von Op. 79 Nr 1, das er auf einem langgeschwungenen Bogen entfaltet. Sicher, selbst ein Sokolov verspielt sich gelegentlich einmal. Aber wie er diese Werke bis ins Detail ausleuchtet und ihre innere Logik zwingend entfaltet, ist atemberaubend.

Durchwachsen dann die Eindrücke am kommenden Morgen. Andris Nelsons dirigierte die zweite Matinee der Wiener Philharmoniker im Großen Festspielhaus. Nelsons, der viel Gewicht verloren und viel Energie gewonnen hat, gestaltete zwar die einleitende Melodie der Bratschen zum Adagio aus Mahlers 10. Sinfonie (es entstand 1910 und ist der einzige Satz, der vom Komponisten vollendet wurde) mit Wärme und klanglicher Noblesse. Aber insgesamt blieb das Spiel der Philharmoniker wohl zu pauschal und indifferent. Der katastrophische, schockhafte Einbruch hätte schärfer konturiert sein dürfen. Dafür verklang der Satz zart und geradezu ätherisch schön. Was bei Mahler fehlte, konnte Nelsons bei Schostakowitsch zeigen: Präzision, Härte, motivische Feinarbeit. Stimmig war hier schon die Rahmung: Denn seine 10. Symphonie erklang genau am 50. Todestag des Komponisten. Als Schostakowitsch sie komponierte, war Stalin gerade gestorben, und so wird immer wieder behauptet, der von ihm ausgegangene Terror habe in diesem Werk einen musikalischen Ausdruck gefunden. Jedenfalls steigerten Dirigent und Orchester die harsche, stampfende Rhythmik immer wieder bis zum Exzess und bis zum ohrenbetäubenden Forte, so dass ein Gefühl einer ins Leere laufenden Motorik entstand. Das war so beeindruckend wie beängstigend. Die Ovationen, die daraufhin folgten, wirkten bei aller Brillanz der Darbietung merkwürdig unpassend, beinahe wie ein Missverständnis. Im Grunde wäre betroffenes Schweigen als Reaktion auf diesen wüsten Exzess stimmiger.

Zurück in Shakespearische Gefilde führte schließlich die Wiederaufnahme von Verdis „Macbeth“ in der Regie von Krzysztof Warlikowski. Ähnlich wie Ulrich Rasche tragen auch seine Arbeiten eine unverkennbare Handschrift, was ja bewundernswert wäre, hätte sich im Laufe der Jahre nicht der Eindruck verfestigt, der eine wie der andere inszenierte jedes Werk praktisch identisch, so dass letztlich zwischen einer „Fledermaus“ und einem „Parsifal“ keine wesentlichen Unterschiede mehr erkennbar sind. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Bühnenbilder: Immer gibt es Maschienen bei Rasche, fast immer Räume mit dem Charme des Ostblocks bei Warlikowskis Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak. Dieses Mal hat sie eine Art von Turnhalle gestaltet (selbstverständlich in Magentarot und Petrolgrün). Ein metallischer Kubus, der links hin und wieder auf die Bühne fährt, sorgt für die Auftritte der Hexen, eine Art von transparentem Schwenkarm ermöglicht rasche Abgänge rechts. Dort findet sich die Lady gleich zu Beginn der Oper bei einem Frauenarzt ein, und offensichtlich ist die Diagnose trüb. Aus der Kinderlosigkeit des Paares will der Regisseur nun den Ehrgeiz und die Skrupellosigkeit des Paares, vor allem natürlich der Lady, erklären. Und deshalb zieht sich das Thema der Kinder als roter Faden durch den Abend: Die Hexen kommen in Begleitung von Kindern mit starren Masken, der tote Banco (als Lebender noch kraftvoll: Tareq Nazmi) erscheint seinem Mörder in Gestalt von Kindern, die seine Gesichtszüge tragen. Vladislav Sulimsky gibt mit einem geschmeidigen und differenzierten Bariton dabei ein glaubhaftes Portrait eines seelisch zerstörten Menschen, den seine schlimme Tat nicht ruhen lässt. Hier hat jemand ein Verbrechen begangen, das seine seelischen Kapazitäten übersteigt. Länger als ihm gelingt es seiner Frau, die Fassade zu wahren. Asmik Grigorian zeigt aber bereits im berühmten Trinklied mit glühender Intensität, dass der Frohsinn, zu dem sie aufruft, einen Abgrund überdecken soll. Am Ende ist sie so derangiert wie Macbeth: Nur noch ein Schatten ihrer selbst, wankt sie mit einer Lampe in der einen, dem Whiskyglas in der anderen Hand über die Bühne und müht sich vergebens, die imaginierten Blutflecken abzuwaschen. Grigorian ist dabei darstellerisch von großer Eindringlichkeit und stimmlich facettenreich. So gelingen dem Regisseur immer wieder starke Szenen; es ist gewiss eine seiner besseren Arbeiten, und Philippe Jordan verleiht dem Abend am Pult der Wiener Philharmoniker kraftvolle Akzente, findet aber immer wieder auch atmosphärisch zarte Momente. Ein lohnender Abend.

Und dann ist da noch, wie schon seit Jahrzehnten Mitte August zu Mariä Himmelfahrt, der Auftritt Riccardo Mutis mit den drei immer ausverkauften Matineen der Wiener Philharmoniker. Muti, der seit 1971 in Salzburg zu Gast ist, gehört zu den Lieblingsdirigenten des Orchesters, das eng mit ihm verbunden ist und hunderte von Konzerten mit ihm spielte. Diese Vertrautheit zeigte sich auch im diesjährigen Programm. Zunächst stand die sogenannte tragische Symphonie von Franz Schubert auf dem Plan, also D 417 in c-Moll, die 1816 entstand, als der Komponist gerade einmal 19 Jahre alt war, vermutlich für ein recht kleines Orchester geschrieben. Die Philharmoniker hingegen spielen das charmante Werk in großer romantischer Besetzung, und das verleiht der Aufführung eine gewisse Behäbigkeit, die nicht unbedingt zur Jugendfrische des Stückes passt. Das Menuett könnte man sich leichter vorstellen, das abschließende Allegro fiebriger im Gestus. Andererseits: die Balance der Instrumentengruppen ist perfekt, der Streicherklang rund und weich, die Holzbläser ungemein sprechend. Schöner lässt sich das kaum spielen; aufregender durchaus. Im zweiten Teil folgte Anton Bruckners Messe Nr. 3 in f-Moll. Gleich das Kyrie geriet expressiv, weil Sopran (Ying Fang) und Bass (William Thomas) die Dringlichkeit der Bitte um Erbarmen wechselseitig steigerten. Zart und klangschön glückte der erste Einsatz des Wiener Staatsopernchores, der insgesamt in den zurückgenommenen Passagen mehr überzeugte als in den dramatischen, weil sein Klang im Forte leicht ins Flackern gerät und zu breit wird. Auch wäre eine noch klarere Diktion wünschenswert. Sowohl beim Benedictus als auch beim Agnus Dei war es dann besonders die orchestrale Einleitung, die begeisterte. Wie herrlich klingen diese Streicher, wie satt und golden der Ton der Flöte (Karl-Heinz Schütz)! Das abschließende „Dona nobis pacem“ war eine so zart wie inständig musizierte Bitte, die tief bewegte. Hier gelang Riccardo Muti einer jener Momente großer Eindringlichkeit und Tiefe, für die das Publikum ihn liebt und feiert. Jahr für Jahr aufs neue.