The Tempest wurde 1611 aufgeführt, eröffnet Shakespeares Folio-Gesamtausgabe und ist vielleicht sein letztes, wichtigstes Stück. Gattungs- und Genrekonventionen werden unterlaufen: weder Tragödie noch Komödie noch Historienstück, kein Märchenspiel, doch voller Zauberei und sprachlich hochartifiziell; Ort vielfältigster Selbstreflexionen und -stilisierungen von Künstler und Kunst, die sich im Zauberer Prospero verdichtet. Der künstlich inszenierte Sturm mit realem Schiffbruch wurde als Chiffre wechselhafter Weltläufe gelesen. Thematisiert werden Verrat, Rache und Gnade ebenso wie menschliches Leid, Dummheit (wo gibt es bei Shakespeare so lächerliche Personen wie Stephano und Trinculo?), Utopie und Träumerei: „We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep.“
Eine dankbare Vorlage für Aneignungen und -verwandlungen in anderen Künsten, für Musik und Theater ohnehin. Entsprechend ließen sich neben späteren Instrumentierungen dieser Musikstücke (u.a. Purcell, Berlioz, Sibelius) oder symphonischer Tempest-Musik (u.a. Tschaikowski, Honegger) knapp 50 Tempest-Opern aufzählen, darunter Schmuckstücke wie Johann Friedrich Reichardts Geisterinsel oder die bekannteren von Frank Martin, Michael Nyman oder Thomas Adès. Nicht zu vergessen das Kino – Derek Jarmans Skandalfilm oder Helen Mirren als Prospero bei Julie Taymor sind ebenso unvergesslich wie Peter Greenaways buch- und medientheoretische Überinszenierung Prospero’s Books mit John Gielgud in der Hauptrolle.
Nun reduziert und dekonstruiert die neue Oper von Georg Friedrich Haas mit einem Libretto von Harriet Scott Chessman (Premiere 17. September, fünf Vorstellungen in Bern bis 2. Oktober) das allermeiste, was in der Tempest-Tradition bisher vorliegt. Der Titel Sycorax zeigt es an, rückt eine unsichtbare und stumme Nebenperson ins Zentrum, die Körper und Stimme erhält. Verdrängte Wahrheiten. Aus der bei Shakespeare kaum erwähnten algerischen Hexe, die zu Prosperos und Mirandas Ankunft längst gestorben ist, jedoch neben ihrem Sohn Caliban für feministische und postkoloniale Tempest-Lektüren bedeutsam wurde, wird die sprechende (nie singende) Hauptfigur.
Der sonst fast 20 Personen umfassende Tempest (neben namenlosen Seeleuten, Geistern, Nymphen oder Landvolk) wird auf fünf Protagonisten entschlankt, neben Sycorax (Mollena Lee Williams-Haas) verbleiben Caliban (Thando Mjandana), Prospero (Robin Adams), Miranda (Juliane Stolzenbach Ramos) und Ariel (Mengqi Zhang). Dazu singt, säuselt und summt ein Chor, der auch Naturgewalten wie Sturm, Feuer, Luft verkörpert, sowie Prospero dienende Geister (Haas spricht vom „Chor der Geister als Symbol der Heilung“).
Dass Nebenfiguren so prominent ins Zentrum geraten und The Tempest auf knappe 80 Minuten in zwei Akten zusammenschnurrt, verändert Personenkonturierung und Handlung (Regie: Giulia Giammona). Prospero wird nicht mehr als zu Unrecht verbanntes Opfer einer Geschwisterintrige erkennbar, sondern als kolonialer Usurpator, der sich – von Sycorax vor dem Ertrinken errettet – nicht nur ihre Insel aneignet und deren Bevölkerung versklavt, sondern alles zum Schlechten wendet: Statt eines paradiesischen Eilands heruntergewirtschaftete Reste zerstörter Umwelt, Müll, Industrieschrott: ausrangierte Flugzeugsitze, Röhren, Stangen, Plastik- und Metallreste. Mit Ausnahme von Sycorax tragen alle Figuren Schutzanzüge und inhalieren Sauerstoff aus Flaschen, woran sie schwer tragen (Bühne Anna Schöttl, Kostüme Axel Aust). Offenbar die wichtigste Ressource, Prospero hat die Macht an sich gebracht und die Atemluft monopolisiert.
Ideologiekritische und besonders postkoloniale Lektüren des Tempest sind seit Jahrzehnten gebräuchlich und wurden prominent vorgebracht, kein geringerer als Aimé Césaire schrieb alles 1969 mit Caliban als kreolischer Hauptfigur zu Une Tempête um; entsprechende Tempest-Bühneneinrichtungen und kultur- und literaturwissenschaftliche Lektüren wurden in alle (un-)möglichen Richtungen versucht. Harold Bloom kritisierte, das Stück sei neben A Midsummer Night’s Dream unter allen von Shakespeare dasjenige, das am schlechtesten gelesen und aufgeführt werde („the worst interpreted and performed“) und behauptete mit Spitze gegen postkoloniale Deutungen: „anyone who arrives at that view is simply not interested in reading the play at all. Marxists, multiculturalists, feminists, nouveau historicists — the usual suspects — know their causes but not Shakespeare’s plays.“ Über das Haas-Libretto hätte Bloom kaum gnädiger geurteilt. Zugleich beansprucht Sycorax gar nicht erst, werkgetreue Tempest-Inszenierung zu sein.
Auffällig am Libretto ist die Verknüpfung mit kapitalismuskritischen Öko-Themen, der Insel als Ort einer Umweltkatastrophe, die nur aufgegeben oder – von jemand anderem als Prospero – gerettet werden kann. Dessen Rückkehr ist nicht dem Zufall geschuldet, der ihm seine Feinde in die Hand gibt, sondern notwendige Konsequenz davon, dass der gealterte Gewaltherrscher seine Kolonie so heruntergewirtschaftet hat, dass sie nicht weiter lebenswert ist und die Luft zum Atmen fehlt. Wenn er mit Inhalationsmaske auftritt, was an die aktuelle Seuche erinnert, auch an Frank Booth aus David Lynchs Blue Velvet, zum Inhalieren einhält, wird durch den von Adams überragend gesungenen und gespielten Prospero die Gebrechlichkeit und Kraft des Bösen anschaulich.
Prosperos Gegenspielerin ist die stereotyp als gut überzeichnete Sycorax, nicht mehr Hexe, sondern gütige, naturverbundene Muttergottheit. Als einzige bedarf sie keiner künstlicher Sauerstoffzufuhren, trägt nicht die postapokalyptischen Uniformen der anderen, sondern ein leuchtendrotes Kleid. Gespielt wird Sycorax von der Ehefrau des Komponisten. Der hinsichtlich der Rollenverteilung vorgab: „Ich bin stolz, dass Sycorax eines der wenigen Werke ist, bei dem die ‚racial identity‘ der Protagonist*innen in der Partitur festgelegt ist. Es ist ganz wichtig, dass Prospero und Miranda ‚caucasian‘ sind, die anderen Charaktere aber People of Colour. Diese Vorgabe in der Besetzung macht auch bewusst, wie schwer es immer noch ist, Ensembles divers zu besetzen. Es wird noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis wir weiter sind, aber es wird kommen. So gesehen glaube ich, dass Sycorax auch ein Anfang ist.“
Weißes Patriarchat unterliegt schwarzem Matriarchat; sogar auf der Opernbühne. Allerdings ist diese Besetzung problematisch für die Uraufführung dieser Berner Auftragskomposition: Die Publizistin, BDSM-Aktivistin und Schauspielerin Williams-Haas verdient Aufmerksamkeit – ist aber die vierte Ehefrau des Komponisten. Der mit solcher Auf-den-Leib-Schreiberei die Rolle und ihre Einsätze an den Rand des Beliebigen treibt und riskiert, das Genre der Oper aufzugeben. Denn Williams-Haas singt nicht. Im Unterschied zu allen anderen Figuren – viele sind nicht übriggeblieben – spricht sie, per Mikrophonanlage verstärkt. Das ist hinsichtlich der Gewichtung der Rollen – sie ist keine unbeteiligte Erzählerin – befremdlich.
Die titelgebende Hauptfigur einer Oper sollte singen. Zumindest auch singen, es geht nicht um Sprechverbote, es gibt Zwischenformen. Man stelle sich eine Carmen vor, wo alleine die Carmen nicht singt, alle anderen hingegen schon; eine ebensolche Poppeia, Norma, Lucia, Aida, Butterfly, Lulu usf. In Sycorax ist das so. Bei der Konfrontation mit Prospero starrt Sycorax grimmig und siegt durch dominante Körperhaltung (qua moralischer Überlegenheit ohnehin), aber nicht durch ihre Stimme. Dass eine unverstärkte Singstimme eine verstärkte Sprechstimme an Intensität und Laustärke überragt, zeigt sich, trotz guter Regie und optimaler Leistungen aller Ausführenden.
Macht schweigt oder ist lakonisch; braucht nicht viele Worte. Kaiserliche Diktion, Befehlsstil, sprichwörtliche brevitas imperatoria; Befehle sind knapp und kurz. Das wird nicht entsprechend umgesetzt, Sycorax hat das erste und letzte Wort, spricht mehr banal als gewichtig, mehr gravitätisch als souverän, oft geschwätzig. Sie ist als Naturgöttin legitime Herrscherin über das Eiland, gnädig, beherrscht und versöhnlich. Aber wirkt nicht so, wenn sie auch auf Liebe setzt und „A life of peace. No empire. Freedom to question, to love.“ ihre abschließenden Worte sind. So kitschig das im Libretto zu lesen ist, hätte es gesungen verträglicher werden können; nicht nur Scott Chessman vereinfacht moralisch; dass Haas die Hauptrolle der aktuellen Ehefrau zuschrieb, die keine Singstimme mitbringt, bleibt moralisch angreifbar.
Während es bei Shakespeare Sycorax ist, die Ariel in eine Kiefer einzwängt, Prospero ihn aber befreit, wird Prospero zum Folterer und Sycorax zum Opfer solcher Praktiken. Die Shakespare-Vorlage wird umgedreht: Prosperos Darlegungen seiner Handlungen werden als Herrschaftslügen kenntlich, was aus seinem Mund erklingt, ist die Verkehrung der Wahrheit. Die ist alleine durch Sycorax zu vernehmen. Haas hätte seine rigide Besetzungsvorgabe mit ausgebildeter Sängerin erfüllen können; das Berner Ensemble wäre mit Masabane Cecilia Rangwanasha optimal aufgestellt gewesen; die Stimmnotation sieht das aber nicht vor. Es ist fraglich, ob Sycorax außerhalb Berns an einem anderen Haus aufgeführt werden wird; sogar die Librettistin imaginierte in der Hauptrolle Williams-Haas.
So bleibt der Eindruck, einem unfreiwilligen Schiffbruch beizuwohnen, der vermeidbar gewesen wäre: mit gesungener Musik, mehr Kunstfertigkeit und weniger Plattitüden im Libretto. Mit Scott Chessman als Librettistin gelingt das nicht. Wenn man weiß, dass Haas und Williams-Haas in einer exponierten sadomasochistischen Beziehung leben, worin er dominiert, wozu es New York Times-Interviews oder Dokumentarfilme (The Artist & The Pervert) gibt, wird ihre Besetzung schwierig; Prospero-Haas als alter weißer Künstler-Mann, der sich Sycorax gegenüber inkorrekt verhält bzw. ihr etwas schuldig bleibt?
Zugleich äußert Haas hochinteressante Überlegungen: „Ich habe einen sehr ungewöhnlichen Gedanken: Die Oper wurde nur deswegen so erfunden, weil man lauter singen als sprechen kann. Entsprechend ging im 19. Jahrhundert die Entwicklung dahin, dass die Orchester grösser und die Stimmen lauter wurden; dabei wurde aber auch die Sprachverständlichkeit immer geringer. Heutzutage haben wir dieses Problem nicht mehr, denn es gibt die elektronische Verstärkung. Wir können die Sprechstimme genauso laut machen wie einen Sopran. Es ist eine Herausforderung, damit neue Wege des Opernschaffens zu beschreiten.“ Ist Textverständlichkeit wichtiger als Musik? Sycorax kommt thesenhafter und moralisierender daher, als sie es müsste. Zielt Haas darauf ab, alle Singstimmen durch Sprechstimmen zu ersetzen? Der „Sprachverständlichkeit“ zuliebe? Eine Revolution; Sprechtheater mit Musikbegleitung. Selbstabschaffung der Kunstform Oper und gewollter Schiffbruch.
Dabei ist Sycorax weithin gelungen: Die Thematik ist brandaktuell (allein, was seit dem Tod von Elizabeth II. diskutiert wird), obwohl das Libretto polarisiert und vereinfacht, bleibt die musikalische Ausführung makellos: der von Zsolt Czetner einstudierte Chor der Bühnen Bern leistet wie gewohnt Überragendes und ist geschickt hinter Zuschauern und Bühne aufgeteilt, wodurch eine unerhörte Akustik entsteht. Das von Bas Wiegers, dem man seine Erfahrung mit Haas-Kompositionen deutlich anhört, dirigierte Streichorchester sitzt mittig auf der Bühne: vier Geigen, drei Bratschen, acht Celli und fünf Bässe. Die fortwährend umgestimmt werden, was gemeinsam mit der intensiven Chormusik und den überragenden Solisten zu einem Musikerleben führt, das atemberaubend ist.
Die Vidmar-Hallen bieten Gestaltungsmöglichkeiten, die für Sprechtheatereinrichtungen innovativ wären, mehr noch für Opernproduktionen (freie Platzwahl zum Einheitspreis mit Haupttribüne und Nebensitzen, vorrangig bespielt wird die Ecke, wo sie im rechten Winkel zusammentreffen). Daraus resultiert eine Einbeziehung ins Geschehen, besonders für diejenigen, die in den ersten Reihen sitzen, die Opernproduktionen in Guckkastenbühnen nie bieten können. Allen voran Adams, auch Mjandana, Stolzenbach Ramos und Zhang singen und spielen eindrucksvoll, Williams-Haas hat eine Auftrittsgewalt und Bühnenpräsenz, die man gerne häufiger erlebte. Es wurde – der Komponist ist anwesend, es gibt Podiumsgespräche und Begleitkonzerte – nicht gespart; trotzdem bleibt ein Unbehagen.
Eine andere Form von Harmonie verspricht Haas, Fortentwicklungen seines kompositorischen Schaffens: „Sycorax ist für mich der zweite Schritt; der erste Schritt war ein Stück, das noch nicht Theater war, sondern ein Konzert für elektronisch verstärkte Sprechstimme und Kammerorchester: Hyena. Die Erfahrungen von Hyena haben mir mit Sycorax geholfen und die Erfahrungen von Sycorax werden in der nächsten Oper wiederum von Bedeutung sein. Komponieren ist ein ständiger Lernprozess.“ Für Hyena schrieb Williams-Haas den Text und führte alles in einer One-Woman-Performance selbst auf. Warten wir, wie es nach Sycorax weitergehen wird.