Im Winter des Jahres 1890 feierte Marius Petipas „Dornröschen“ in St. Petersburg zur Musik Tschaikowskis Premiere. Der Stoff, der auf ein Märchen von Charles Perrault zurückgeht, gehört zu den populärsten Märchenerzählungen mindestens Europas und bietet gerade für ein Ballett eine reiche Fülle an Motiven und Figuren. Die Handlung an sich ist rasch erzählt: Ein Königspaar wünscht sich nichts sehnlicher als ein Kind. Als es endlich zur Welt kommt, vergessen die überglücklichen Eltern allerdings, eine Fee, Carabosse, zur prächtigen Tauffeier zu laden. Sie verflucht die kleine Aurora: An einem Stich durch eine Spindel soll sie, erwachsen geworden, einmal sterben. Doch die gute Fliederfee kann das Verdikt abmildern: Ein langer Schlaf folgt dem Stich, nicht aber der Tod. Und so kommt es tatsächlich: Aurora feiert ihren 16. Geburtstag, listig überreicht man ihr die vermaledeite Spindel, der Stich ist unausweichlich, woraufhin der gesamte Hofstaat in totenähnlichen Schlaf verfällt. Aus dem kann der schöne Prinz Désiré die Schlafende wecken. Natürlich endet das Märchen mit der Hochzeit des Paares. Was den Stoff für Petipa so reizvoll machte, war natürlich vor allem die Möglichkeit, die drei großen Feste tänzerisch brillant auszugestalten, und so ist „Dornröschen“ eben vor allem ein Fest des Tanzes. Petipas Fassung darf als Inbegriff klassischer Tanzkunst gelten.
Es hätte dem Wiener Staatsballett mit seiner klassischen Tradition also sehr gut zu Gesicht gestanden, diese Fassung auf die Bühne zu bringen. Doch ach! Der neue Chef des Hauses, Martin Schläpfer, wollte es anders. Von Petipas Choreographie hat er lediglich zwei kleine Passagen (Rosen-Adagio und den pas de deux auf dem Hochzeitsfest) beibehalten, alles andere sorglos entsorgt und durch eigene, neue und – man muss es leider sagen – weit schlechtere Einfälle ersetzt. Natürlich kann man „Dornröschen“ auch anders, mit den Mitteln des modernen Tanzes erzählen – nur muss man dann wirklich etwas Neues, Substantielles zu erzählen haben. Schläpfers Mittel indes reichen nicht hin, der Geschichte eine zwingende Deutung abzugewinnen oder den Figuren psychologische Tiefe zu verleihen.
Dies ist umso erstaunlicher, als der Choreograph doch über großartige Tänzer verfügt. Das Königspaar zum Beispiel, oft mit älteren Charaktertänzern besetzt, wird hier von Olga Esina und Masayu Kimoto technisch hervorragend getanzt. Auch die Konfrontation der beiden Feen gerät dank Claudine Schoch als Carabosse und Ioanna Avraam als Fleiderfee durchaus dramatisch. Jedoch wirkt Hyo-Jung Kang als Aurora merkwürdig blass; es fällt schwer, ihr die Rolle eines sechzehnjährigen Mädchens und, im dritten Akt, die einer liebenden Frau zu glauben. Technisch meistert sie ihren Part auf hohem Niveau, auch gemeinsam mit Brendan Saye als eleganter Désiré. Doch der Abend wirkt seltsam fahl und altbacken, was nicht zuletzt mit der ästhetisch unentschiedenen Ausstattung zusammenhängt. Die Kostüme von Catherine Voeffray erinnern bald an höfische Gewänder, bald an Alltagskleidung aus den 50er Jahren, dann auch wieder an Eiskunstläufer oder Go-go-Girls. Warum? Arg platt mutet schließlich die Bühne mit ihren allzu großen Rosenblüten an, die den Hintergrund gleich von Anfang an zieren und sich in dramatischen Momenten bläulich verfärben. Disparat mutet das alles an, wild zusammengestückelt. Es bleibt Tschaikowskis Musik, die Patrick Lange am Pult des anfangs ein wenig müde wirkenden Orchesters der Wiener Staatsoper je länger je glücklicher aufrauschen und sich entfalten ließ. Die 11. Vorstellung am 29. Dezember war die letzte in dieser Saison. Dieses „Dornröschen“ sollte nicht allzu früh wiedererweckt werden. Ein langer Schlaf in den nächtlichen Tiefen des Fundus´ sei dieser Produktion herzlich gegönnt.