Selbst Banausen, die nie im Leben ein Theater betreten haben, kennen den Titel und assoziieren perfekt synchrone Ballerinen in weißen Tutus. „Schwanensee“ ist das berühmteste aller Ballette. Dass es die eine, letzthin gültige Fassung gar nicht gibt, verschlägt dabei nichts. Das hängt mit der wechselhaften und alles andere als gradlinigen Rezeptionsgeschichte des Werkes zusammen: Die Uraufführung 1877 in Moskau wurde zwar schlecht besprochen; weder Tschaikowskys Musik (es war vor „Dornröschen“ und „Nussknacker“ sein erstes Ballett) noch die Choreographie von Wenzel Reisinger wurde von der Presse akklamiert. Dennoch wurde das neue Werk häufig gespielt. Nach Tschaikowskys Tod kreierte Lew Iwanow 1894/95 in Petersburg den zweiten, den sogenannten weißen Akt von „Schwanensee“ als Gedenkveranstaltung für den Komponisten. Der Erfolg war so groß, dass Marius Petipa den 1. und 3. Akt ergänzte. Diese Fassung wurde zur Grundlage der späteren „Schwanensee“-Choreographien.
Das gilt auch für Ray Barra, der das Werk 1995 für das Bayerische Staatsballett neu inszenierte, ohne sich dabei ganz von der Tradition zu verabschieden. Ähnlich wie in John Crankos Stuttgarter Fassung von 1963, die Barra als Solist erlebte, steht auch bei ihm die männliche Hauptrolle, Prinz Siegfried, im Fokus der Handlung, die sich, so lassen es die Kostüme von John Macfarlane vermuten, Ende des 19. Jahrhunderts an einem von steifem Zeremoniell geprägten, vielleicht sogar preußischen Hof zuträgt. Ray Barras Choreographie erzählt die Geschichte nun so, dass solistische Glanzleistungen immer wieder organisch in den Handlungsablauf integriert werden können. Von den Tänzern erfordert eine solche Anlage zum einen technische Perfektion, zum anderen darstellerische Gestaltungskraft.
Jinhao Zhang tanzte bei der Wiederaufnahme im zu 75 Prozent besetzten Nationaltheater die Titelpartie als prinzliche, sensible Erscheinung, die sich in der höfischen Welt nur schwer zurechtfindet. Eine gewisse Kühle, die er dabei ausstrahlt, passt durchaus zur Distanz der Figur gegenüber ihrem Umfeld, vor allem aber gegenüber der ihr zugedachten Verlobten, die Maria Baranova mit nobler Grazie und sicherer Technik als durchaus liebeswürdige Partnerin zeigt. Ihr pas de deux, formelhaft elegant, bleibt, durchaus stimmig, frei von Leidenschaft. Königin Luise (Séverine Ferrolier) stört das wenig: Unerbittlich beharrt sie auf der Eheschließung zwischen ihrem Sohn und der schönen, aber ungeliebten Prinzessin.
Das Bühnenbild Macfarlanes, das keine detailgetreu-realistische Ausstattung sein, sondern eher die Gefühlslage des Protagonisten spiegeln will, vermittelt atmosphärisch das Steife und Kalte dieser höfischen Sphäre: Ein Baum ragt grünlich fahl in die Höhe, links und rechts wird die Szenerie von abfallenden, marmorglatten Wänden begrenzt. In diesem Ambiente kann Siegfrieds Schwermut auch von seinen Freunden nicht aufgehellt werden, obwohl sie sich mit allerlei tänzerischen Kunststücken darum bemühen. Dem Zuschauer ergeht es hier ähnlich wie dem Helden: Diese Ausstattung wirkt drückend und, mit Verlaub, recht altbacken. Sie verunklart zudem die Linienführung der Tänzer, weshalb die ganze Ball-Szene des 1. Aktes merkwürdig diffus anmutet.
Gerne flüchtet man darum mit dem Protagonisten in seine Traumwelt zur Schwanenkönigin und deren weiß gefiederten Gefährtinnen und labt sein Auge an der strengen (nicht immer makellosen) Symmetrie des corps de ballet, aus dem die vier kleinen Schwäne (Carollina Bastos, Madeleine Dowdndey, Margarita Fernandes, Marta Navarrete Villalba) mit ihrem präzis einstudierten Quartett herausragen. Ihre Schwanenkönigin Odette, getanzt von Prisca Zeisel, harmoniert bestens mit dem zarten Prinzen des Jinhao Zhang. Beide sind gut aufeinander eingespielt, die vielen Hebefiguren gelingen bewundernswert sicher. Nur könnte der Kontrast zum Auftritt mit Prinzessin Charlotte durch eine leidenschaftlichere, intensivere Rollengestaltung noch deutlicher hervorgehoben werden, zumal Zeisels Fouettes und Zhangs Grand Jetés mehr als nur solide sind, aber auch nicht zur Begeisterung hinreißen. An einer letzten technischen Brillanz fehlt es auch den mannigfaltigen tänzerischen Einlagen auf dem Ball des dritten Aktes. Zugegeben, eine Klage auf sehr hohem Niveau. Doch gerade ein Klassiker wie „Schwanensee“ lebt nicht zuletzt von zirzensischer Virtuosität. Dass dieses Fest nicht in der vorgesehenen asymmetrischen Kulisse mit weit aufgerissenen roten Türen spielt, die wiederum Ausdruck von Siegfrieds zerfahrenem Seelenleben darstellen sollte, sondern auf fast nackter Bühne, weil das Team der Techniker durch Omikron stark reduziert war und Umbauten nicht wie vorgesehen bewältigen konnte, schadet ihm kaum. Nur gestaltet sich der Übergang zur Schluss-Szene am See, in dem Siegfried schließlich ertrinkt, allzu unmerklich. Das Finale selbst geht dann unter die Haut. Das liegt nicht nur an Emilio Pavan, der als finsterer Rotbart über beeindruckende Bühnenpräsenz verfügt und mit zauberischer Macht über Odette gebietet, sondern natürlich auch am Orchester der Bayerischen Staatsoper, das Tschaikowskys unwiderstehliche Musik unter der Leitung von Tom Seligman mit romantischem Schmelz und großem Gestus zum Klingen bringt.