Serenissima
Die Pfingstfestspiele führen 2025 nach Venedig
Salzburg., 10. Juni 2025, Christian Gohlke

Nach Rom und Sevilla in den letzten Jahren war es dieses Mal Venedig, das thematisch im Zentrum eines klug kuratierten Programmes der Salzburger Pfingstfestspiele unter der Leitung von Cecilia Bartoli stand.

Versteht sich, dass Antonio Vivaldi dabei eine wichtige Rolle spielte, wurde der Komponist doch nicht nur 1768 in der Lagunenstadt geboren, sondern schuf am dortigen Ospedale della Pietà und später am Teatro Sant‘ Angelo einige seiner großen Werke. Doch nicht eine seiner Opern gab es im Haus für Mozart als zentrale Premiere des Festivals zu sehen, sondern ein Pasticcio – also ein neues Stück, das aus altem Material zusammengesetzt wurde, ganz so, wie es im 18. Jahrhundert üblich war. Ausschnitte aus „Orlando“, „La fida ninfa“, „Andromeda liberata“, „Judita triumphans“ und etlichen andren Werken finden sich in dem Stück, das Barrie Kosky unter dem Titel „Hotel Metamorphosis“ zusammen mit dem Dramaturgen Olaf A. Schmitt kreiert hat. Gewiss, eine charmante Idee! Doch im Grunde erweist sich der Abend als Mogelpackung. Denn letztlich dienen die Musiknummern Vivaldis lediglich als Untermalung von Affekten, die durch Passagen aus Ovids „Metamorphosen“ ausgelöst werden. Angela Winkler führt als eine Art von Conférencie mit hüpfender Jung-Mädchen-Stimme durch den Abend, indem Sie von Pygmalion, Arachne, Myrrha, Echo und Narziss und schließlich von Eurydice in der Unterwelt berichtet. So ersetzt Winkler als Erzählerin gewissermaßen die handlungsfördernden Dialoge der Oper, die in den Figuren Affekte wie etwa Wut, Eifersucht, Hass oder Liebe auslösen, die dann in den einzelnen Musiknummern gleichsam illuminiert werden. Vier der fünf Mythen werden bei Kosky in einem beliebigen modernen Hotelzimmer angesiedelt, wobei ein Ölgemälde überm Kingsize-Bett jeweils verrät, welcher Stoff nun gerade gespielt wird. Gekonnt eingesetztes Licht und Videoprojektionen (Franck Evin, rocafilm) schaffen eine je andere Atmosphäre, die natürlich auch und wohl sogar vor allem von der feinsinnigen Orchesterbegleitung (Les Musiciens du Prince – Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano) herrührt. Wenn Pygmalion mit seiner selbsterschaffenen Puppe am Tisch sitzt und Wein trinkt oder ihr später die Nägel lackiert, so darf Philippe Jaroussky mit seinem ein wenig spröder gewordenen Countertenor die Gefühle des Helden zum Ausdruck bringen. Dann liefern sich Cecilia Bartoli und Nedezhda Karyazina als Arachne und Minerva einen Wettkampf im Spinnen, wobei hier nicht nur ein Netz, sondern gleich das World Wide Web von den Web-Designerinnen gesponnen wird. Nicht nur im Wettkampf, sondern auch stimmlich entscheidet Minerva dieses Duell für sich, verfügt die russische Mezzosopranistin doch über eine ungemein wohllautende, zugleich fein differenzierte und jugendlich-gesunde Stimme. Ebenso beeindruckend singt Lea Desandre die Arien, die ihr als Echo in den Mund gelegt wurden: Hell und wendig, frisch und stilsicher zugleich. Schade nur, dass Kosky die Figur als dauerkicherndes Girlie anlegt und sie damit ihrer Ernsthaftigkeit beraubt. Ganz am Ende freilich will die Regie sehr ernst und sehr bewegend sein. Dann nämlich, wenn Eurydice in die Unterwelt hinabsteigt und sich unter dem nach oben geschwebten Hotelzimmer ein Hades öffnet, in dem schwarze Gestalten mit knöchernen Vogelköpfen im Neben umherwandeln. Bartoli darf jetzt ihre große Klage „Gelido in ogni vena“ aus „Il Farnace“ anstimmen. Noch immer kann sie mit ihrem zarten Piano silbrig zarte Melodiebögen spinnen und die Zeit zum Stehen bringen, wobei eine gewisse Einbuße an Geschmeidigkeit gegenüber früheren Aufnahmen nicht zu überhören ist. Dennoch: eine starke Szene an einem insgesamt doch etwas zähen und konzeptionell nicht recht überzeugenden Abend.

Dass bei einem Festival, das sich dem Thema Venedig widmet, im Jahr von Thomas Manns 150. Geburtstag John Neumeiers „Tod in Venedig (uraufgeführt 2003 in Hamburg) im Großen Festspielhaus zu sehen war, darf als besonderer Glücksfall bezeichnet werden. Wie alle Adaptationen weicht auch die Neumeiersche vom literarischen Original ab. Anstatt eines Schriftstellers von Weltruhm steht im Ballett ein Meisterchoreographen im Zentrum. Edvin Revazov (2003 war er noch als Tadzio besetzt) verleiht ihm glaubwürdig die Züge eines zwar großen, aber von Routine bedrohten und sich in einer Schaffenskrise befindlichen Künstlers. Den zerquälten Intellektuellen, der an seiner Arbeit zu zerbrechen droht, glaubt man ihm in jeder Minute, so intensiv und angestrengt arbeitet er an seinem Werk über Friedrich den Großen zur Musik von Johann Sebastian Bach, der in seinen kontrapunktischen Sätzen des „Musikalischen Opfers“ (BWV 1079) ein Motiv Friedrichs aufgegriffen hat. Zur geregelten, strengen Arbeitswelt Aschenbachs stimmt diese Musik ausnehmend gut. Was diesem Künstler fehlt, macht eine anrührende Rückblende deutlich, die den jungen Aschenbach (Filipe Rettore) im ausgelassenen Spiel zeigt. Eine Gegenwelt zum kargen Künstlerleben öffnet sich aber erst, als Tadzio am Strand von Venedig Gefühle im alternden Genie weckt, die längst verschüttet und erloschen zu sein schienen. Caspar Sasse spielt dort als jungenhafter, zugleich kraftvoller Tadzio mit seinen Freunden. Einmal rempelt er den Künstler versehentlich an. Dann entfaltet sich einer jener magischen Momente, die zwischen Traum und Wirklichkeit changieren, indem gleichsam zwei Versionen einer Begegnung gezeigt werden, eine geträumte, in der Tadzio dem Gefallenen die Hand reicht und beide sich einander annähern, und eine realistischere, in der er Aschenbach trocken und ein wenig verlegen die Hand schüttelt und davoneilt. Inspiriert von der Liebe zu Tadzio gelingt Aschenbach dann eine neue Kreation, die Silvia Azzoni und Alexandre Riabko mit großer Anmut als intime, von Zärtlichkeit getragene Schöpfung sichtbar werden lassen. Zu diesen leichten, anmutigen Szenen am Strand, die auch vom schlichten, atmosphärisch dichten Bühnenbild Peter Schmidts profitieren und vom großartigen Hamburger Ensemble hinreißend getanzt werden, lässt sich kaum ein größerer Kontrast denken als Aschenbachs finsterer Traum Es sind dionysische Gestalten (virtuos dargestellt von Matias Oberlin und Louis Musin), die Aschenbach zum Bacchanal aus Wagners „Tannhäuser“ mit Gewalt buchstäblich zu Boden treten. Doch Wagners Musik dient nicht nur als klangliche Untermalung des Bedrohlich-Triebhaften. Zuletzt ist es der „Liebestod“ aus dem „Tristan“, der seine sich steigende Intensität (von David Fray klangsinnlich gespielt) auf die beiden Tänzer überträgt, die sich in immer schneller werdendem Lauf einander annähern. Tadzio eilt voraus, ist dabei aber Aschenbach zugewandt, der seinen nach ihm ausgestreckten geöffneten Armen zustrebt. Eine einzige, aber intensive Umarmung gönnt Neumeier seinem Protagonisten, wenn der „Liebestod“ seinen Höhepunkt erreicht. Dann sinkt er tot zu Boden. Kein Niedergang für eine fragwürdige Liebe, sondern Erfüllung und Erlösung ist das in Neumeiers Lesart.

Auf diesen Trost muss Violetta in Verdis Traviata verzichten, wenn sie vor ihrem Ende immerhin auch neue Kräfte zu fühlen glaubt. Nadine Sierra singt dieses Finale mit glühender Intensität, wie sie überhaupt für alle stimmlichen Facetten dieser Partie den richtigen Ton trifft: mal verträumt, mal kühl, manchmal herb, dann wieder strahlend. Und doch glaubt man ihr diese Rolle nicht so recht. Dafür bleibt die großartige Sängerin allzu sehr Diva – was sich gerade mit der liebenden Traviata des 2. Aktes nicht gut verträgt. Dennoch war diese konzertante Aufführung von Verdis Oper (sie wurde 1853 im venezianischen Teatro la Fenice uraufgeführt) hörenswert: Neben Nadine Sierra stand Piotr Beczala als Alfredo auf der Bühne. Sein Tenor ist nobel und geschmeidig, dabei aber zu dramatischem Furor fähig, wie sein „Io vivo quasi in ciel“ eindrucksvoll zeigte. Glanzvoll besetzt war auch die Partie des Giorgio: Luca Salsi kann seinen Bariton fließen lassen und den Raum damit selbst dann erfüllen, wenn das Mozarteumorchester unter der Leitung von Massimo Zanetti lautstark aufspielt. Anfangs nahm sich Zanettis Dirigat noch etwas grobkörnig aus, fand aber mehr und mehr zu einem feineren, auch farblich schillernden Spiel.

Knapp 1200 Zuschauer konnten sich heuer am vielfältigen Programm der Pfingstfestspiele erfreuen, die mit einer Auslastung von 99 Prozent am Montag zu Ende gingen. Koskys „Hotel Metamorphosis“ wird im Sommer noch mehrfach zu sehen sein.