Eines muss man dem Burgtheater lassen: Anders als in München oder Berlin, wo auf den großen Bühnen echte Dramen kaum noch gespielt werden, kann man in Wien gelegentlich noch richtige Theaterstücke ansehen. Große Namen zieren den Spielplan des ehrwürdigen Hauses am Ring: Neben zeitgenössischen Autoren werden Dramen von Schiller, Goethe, Euripides gespielt, während etwa die Kammerspiele in München, früher weiß Gott ein bedeutendes Haus, zum Beispiel eine „immersive Spurensuche“ („Wo du mich findest“) oder die „Reparatur einer Revue“ („Wer immer hofft, stirbt singend“) oder „eine interaktive Installation“ („Pigs“) zu bieten haben.
Und so fährt man denn nach Wien in der Hoffnung, endlich einmal wieder ein Theaterstück und nicht nur eine wie auch immer geartete Performance zu erleben – und wird bitter enttäuscht. Dass die Premiere am Burgtheater mit „Der Sturm. Von William Shakespeare“ angekündigt wird, ist nämlich nichts als Etikettenschwindel. Offenbar hatte der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson, der in Wien auch schon die „Edda“ auf die Bühne brachte, nur wenig Lust, sich mit Shakespeares Text auseinanderzusetzen. Stattdessen lässt er die Schauspieler, unterstützt von Gabriel Cazes, lieber Schlager oder Pop- und Rocksongs singen, die einen beträchtlichen Teil des 135 Minuten langen Theaterabends beanspruchen: Noch bevor der erste Vers der wenig poetisch anmutenden Übersetzung von Gabriele Gronewold gesprochen wird, gilt es ein viertelstündiges musikalisches Vorspiel zu überdauern, dessen Sinn sich ebenso wenig erschließt wie jener des Bühnenbildes.
Einige meterhohe Metall-Gerüste mit spiegelnder Rückseite kreisen auf der Drehbühne (Elín Hansdóttir), die in ständige Nacht getaucht ist (Licht: Friedrich Rom). Mutig merkt das Programmheft an, dass diese beliebige Ausstattung auf Elemente zurückgreife, die „Wolfgang Menardi für Thorleifur Örn Arnarsson Peer Gynt-Inszenierung entworfen hatte, die aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt werden musste.“ Ist dieses Recycling nicht vielsagend? Ob der „Sturm“ oder die „Lustige Witwe“, ob „Romeo“ oder „Fledermaus“ gespielt wird: die grau-schwarzen Bühnenbilder gleichen sich nur allzu oft und sind tatsächlich weitgehend austauschbar geworden. Immerhin deuten jetzt in Wien Nieselregen und Windmasche den titelgebenden Sturm an, den der zauberkundige Prospero entfacht hat, um die Mailänder Hofgesellschaft, die ihn, der sich lieber den Büchern als dem Herrschen widmet, einst allzu leicht um Rang und Amt brachte, auf sein Inselreich zu spülen. Dort will er mit der Hilfe des Luftgeistes Ariel, den er befreit und zugleich unterworfen hat, Rache nehmen für den an ihm begangenen Betrug, verzichtet aber schließlich darauf. Shakespeares Stück, das sich jeder gängigen Zuordnung sperrt (inzwischen firmiert es als Romanze), erzählt aber nicht nur von Vergebung, sondern auch von Prosperos neuer, durch Magie ermöglichter Herrschaft auf der Insel, mithin von einer Art Kolonialismus. In Wien ist von alledem herzlich wenig zu sehen. Warum der Regisseur gerade dieses Stück inszeniert, das ihm doch offenbar wenig bedeutet, wüsste man gerne.
So bleibt Arnarssons „Sturm“ ohne Poesie und Magie. Die Figuren seiner Inszenierung sind blass und fleischlos. Maria Happel als Prospero (warum eigentlich wird die Rolle mit einer Frau besetzt?) bleibt im Ausdruck eindimensional. Eine Entwicklung der Figur ist bei so starken Kürzungen kaum möglich. Als eine Art Conferencier stakt die Schauspielerin in hohen weißen Lackstiefeln und im weißen Fetzen-Frack durchs Geschehen und bleibt dabei ein beinahe unbeteiligter Spielmacher. Lili Winderlich als Miranda und Nils Strunk als Ferdinand sind als jugendliches Liebespaar zwar hübsch anzusehen. Doch wenn die beiden sich dank der Hilfe Ariels (Mavie Hörbiger) ineinander verlieben, ironisiert der Regisseur die Szene sofort durch eingestreute Passagen aus „Romeo und Julia“ und einem unvermeidlichen Schlager, der alsbald angestimmt wird. Dergleichen ironische Brechung ist längst auch auf Provinzbühnen zum peinlichen Usus geworden und wirkt inzwischen recht abgestanden. Am besten gelingen dank der enormen Sprechkunst und Wandlungsfähigkeit von Michael Maertens die Szenen zwischen den beiden Trunkenbolden Stephano (Roland Koch) und Trinculo, die den Schiffbruch ebenfalls überlebt haben und nun, ähnlich wie Prospero, ein Reich nach eigenem Gusto erschaffen wollen und in Caliban (einprägsam rauh: Florian Teichtmeister) den ersten willigen Untertan gefunden haben, glaubt er doch, sich so aus der Gewalt Prosperos lösen zu können. Was mit den Figuren am Ende geschieht, bleibt in Wien offen. Arnarrsoon scheint sich auch dafür nicht zu interessieren. Stattdessen gibt es noch ein paar Songs, dann spricht die Happel ein paar Verse, und dann ist der Theaterabend halt irgendwie vorbei. „And my ending is despair“, fürchtet Shakespeares Prospero, nachdem er am Ende alle Zauberkräfte abgelegt hat. Nach dieser Inszenierung ohne jede Magie neigt man zu gegenteiliger Annahme: The ending is relief.