Premiere feierte John Neumeiers „Sommernachtstraum“ im Juli 1977 in Hamburg. Zuschauer und Kritiker waren gleichermaßen begeistert. Sogar die Bild-Zeitung vergab damals sechs von möglichen fünf Punkten. Auch heute noch erfreut sich dieser Klassiker des abendfüllenden Handlungsballetts beim Publikum größter Beliebtheit, und zwar nicht nur in Hamburg, wo die Produktion seit der Uraufführung immer wieder gespielt wird, sondern auch in München, wo Neumeiers Schöpfung 1993 ins Repertoire übernommen und nun zum 100. Mal auf der Bühne des Nationaltheaters zu sehen war.
Wie John Neumeier zusammen mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose die drei Handlungsstränge in Shakespeares Komödie einerseits klar voneinander abzugrenzen versteht, sie aber andererseits immer wieder kunstvoll miteinander verflicht, verdient höchste Bewunderung. Da ist einmal die höfische Sphäre. In biedermeierlich anmutenden, farblich fein aufeinander abgestimmten Kostümen wird zu Felix Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“-Musik die Handlung zwischen Theseus und Hippolyta, Helena und Demetrius, Lysander und Hermia mit einem Bewegungsvokabular erzählt, das sich noch am ehesten an den Konventionen des klassischen Balletts orientiert, von Neumeier aber immer wieder expressiv aufgebrochen wird. So schafft er es, die drei Paare je ganz eigen zu charakterisieren. Maria Baranova gab als Hippolyta/Titania ihr Rollendebüt, wobei ihr die zarte Eleganz der Hippolyta im Ausdruck besser gelang als die glaubhafte Darstellung von Titanias durchaus streitlustigem Wesen. Jinhao Zhang, ebenfalls Debütant an diesem Abend, war ihr als Theseus/Oberon ein sicherer, im Ausdruck aber ein wenig blasser, zuletzt auch deutlich angestrengter Partner ohne die für diese Rollen erforderliche Bühnenpräsenz. Überzeugender waren die beiden Liebespaare: Dmitrii Vyskubenko tanzte den ein wenig überzeichneten Demetrius mit schneidigen Offiziers-Gesten, Elvina Ibraimova umschwärmte ihn als rührend unbeholfene Helena mit Witz und klettenhafter Anhänglichkeit. Jonah Cook (Lysander) und Kristian Lind (Hermina) durften demgegenüber von Anfang an in lyrisch weitgeschwungenen Bögen ihr Liebesglück auch mit kleinen, präzisen Gesten zum Ausdruck bringen.
Schroff steht dieser mal lyrischen, mal biederen Welt die derbe Komik der Handwerker-Szenen gegenüber. Drehorgelmusik begleitet ihre Aufführung von „Pyramus und Thisbe“, die anlässlich der Dreifachhochzeit dargeboten wird, die das Stück nach Art einer Komödie festlich beschließt. Hier glänzen mit lustvoller Darstellung vor allem Alexey Dobikov als Zettel/Pyramus und Konstantin Ivkin als Thisbe. Zuvor allerdings gerät die Welt im nächtlichen Zauberwald vor Athen aus den Fugen. Und dafür ist Puck verantwortlich, der Diener Oberons, des Elfenkönigs. György Ligetis Musik hat Neumeier für die Sphäre der Elfen verwendet, deren phantastischen Bewegungen mehr an wabernde Pflanzen oder staksende Tiere als an Menschen erinnern. Verwirrung und Schmerz verursacht Puck durch seine Unbeholfenheit im Umgang mit der Zauberblume, die jeden, der mit ihrem Saft beträufelt wird, denjenigen lieben lässt, den er nach seinem Erwachen zuerst erblickt. Shale Wagman, der diesen Part zur 100. Aufführung eigentlich hätte tanzen sollen und vermutlich eine ideale Besetzung gewesen wäre, musste kurzfristig leider ersetzt werden. Statt seiner gab nun António Casalinho sein unerwartetes Rollendebüt. Seine zierliche, fast knabenhafte Gestalt und seine damit einhergehende Wendigkeit passen bestens zur schalkhaften Partie des Puck, die aber noch mehr überdrehte Lausbubenhaftigkeit. Der junge, aus Portugal stammende Tänzer wirkte – wer kann es ihm unter diesen Umständen verdenken? – noch ein wenig zu brav und unfrei in dieser Partie.
Schön, dass der „Sommernachtstraum“ nach vierjähriger Pause wieder in München zu sehen ist! Fast könnte man meinen, es sei alles wie immer beim Bayerischen Staatsballett, zumal mit Michael Schmidtsdorff ein altvertrautes Gesicht am Pult des Staatsorchesters zu sehen war. Dabei liegen turbulente Tage hinter dem Ensemble: Igor Zelensky trat von seinem Posten als Direktor zurück, in überraschend kurzer Zeit wurde Laurent Hilaire zu seinem Nachfolger gekürt. Dass der Russe sein Amt nicht nur aus „familiären Gründen“ aufgegeben hat, sondern auch, weil er, wie vermutet, dazu aus politischen Erwägungen gedrängt worden war, ist nun klar: Serge Dorny, der Intendant der Staatsoper, ging russischen Satirikern auf den Laim, die sich ihm gegenüber als der ukrainische Kulturminister ausgegeben hatten. Ihm gegenüber gab der politisch so einwandfrei gesinnte Mann ohne weiteres und wohl auch nicht ohne Stolz zu Protokoll, Zelensky zum Entschluss gebracht zu haben, die Oper zu verlassen. „Solche Künstler möchte ich nicht bei uns sehen.“ Er dürfte sich nun über einen Bericht des „Spiegel“ freuen, demzufolge Zelensky sogar eine Affäre mit Putins Tochter gehabt haben soll… Nun, Ballettdirektoren kommen und gehen. Neumeiers Werk aber bleibt.