Sorgsam gemalte Schriftstellerbilder
Vor 25 Jahren erschien Christian Krachts Debutroman, inzwischen ist er einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Die große Wirkung seines Werks hat dabei immer auch mit seiner Selbstinszenierung als Schriftsteller zu tun.
München, 25. Februar 2021, Alexander Sperling
Bestimmt gab es in jeder literarischen Epoche jene melancholischen Kulturliebhaber (und jene melancholischen Kulturliebhaberinnen!), die sich durch das Unglück ihrer späten Geburt um das Miterleben einer großen künstlerischen Blüte betrogen sahen. Wie viele Zeitgenossen Heines etwa schwärmten wohl von der verpassten Weimarer Klassik oder der Jenaer Romantik? Und wie viele Zeitgenossen Goethes und Schillers wiederum schwärmten wohl noch für den großen Meister der Empfindsamkeit, Klopstock, oder gleich für Ovid und Horaz? Aktuell jedoch scheint diese Wehmut besonders ausgeprägt zu sein, was häufig in der skeptischen Frage zum Ausdruck kommt, was von der gegenwärtigen Literatur denn schon wirklich ‚bleiben‘ werde. Die wohlmeinende Aufzählung aktuell bedeutender Gegenwartsautor*innen als Entgegnung wird von diesen Melancholikern dann, Name für Name, mit einem bedauernden Achselzucken verworfen. So kann oft nur ein letztes As im Ärmel den Zu-Spät-Geborenen-Blues unterbrechen: Christian Kracht.

In der Wertschätzung seiner Texte hat sich zwischen Literaturwissenschaft, Literaturkritik Lesepublikum inzwischen eine einigende Übereinstimmung eingestellt, die als außergewöhnlich betrachtet werden darf. Denn wann war es zuletzt möglich, dass man von einem literaturwissenschaftlichen Seminar aus auf eine Party gehen konnte und dort mitunter genauso begeisterte Gesprächspartner zu einem Gegenwartsautoren fand wie eben noch in akademischem Rahmen?

Angesichts einer solchen Wirkung ist es eigentlich kurios, dass Krachts Romane vergleichsweise schwer deutbar sind und sich einer umfassenden Interpretation fast schon systematisch entziehen. Bei anderen Autor*innen der Gegenwart ist dies ganz anders (man denke nur an die meist konkret-politisch aufgeladene Literatur Juli Zehs). Krachts Texte dagegen bleiben tendenziell enigmatisch; den Inhalt seiner Romane kann man oft noch knapp zusammenfassen, wer aber das Gleiche mit der jeweiligen Textaussage versucht, der muss scheitern. Wie schafft es Kracht also, dass die Rätselhaftigkeit seiner Romane nicht langweilig oder enervierend wird, sondern offenbar gerade den Reiz seiner Literatur ausmacht?

Die Antwort auf diese Frage ist wohl beim Autor selbst zu suchen, genauer gesagt bei der planvollen Inszenierung seiner selbst als Autor. In einem Interview mit Denis Scheck (https://www.youtube.com/watch?v=cjewDAQdoB0) erzählt Kracht eine vielsagende Anekdote aus seiner kurzen Zeit als Kunststudent (bei 05:49 Minuten):

Ich hatte mich dann immer so angezogen wie ein Maler, also ich hatte einen Overall an mit Farbflecken überall, die ich mir sorgsam morgens aufgemalt habe [...]; ich war eher ein Maler-Darsteller und das haben die Mal-Professoren auch sehr schnell durchschaut [...].

Dieser kurze Einblick ist deswegen so interessant, weil bereits hier die Inszenierung Krachts als Künstler eine Rolle spielt. Kracht hat dann zwar bekanntlich schnell den Pinsel gegen die Tastatur eingetauscht, die Darstellung seines Künstlertums blieb davon aber grundsätzlich unberührt. Mehr noch: Seit seinem Romandebut Faserland im Jahr 1995 steht bei der Rezeption von Kracht-Texten immer auch die Frage im Raum, in welchem Verhältnis der reale Autor zu seinem Werk steht. Die vielen Leerstellen, die der Ich-Erzähler in Faserland bezüglich seiner selbst und der von ihm erzählten Welt lässt, haben von Beginn an dazu verleitet, die reale Person Christian Kracht als Erklärungsansatz heranzuziehen. Auch die Aufmachung des Romans in der Welt-Edition (siehe unten) steht erkennbar im Zeichen einer solchen Rezeptionshaltung, bei der die Grenze zwischen Hauptfigur und Autor verschwimmt.

Es handelte sich bei Krachts Selbstinszenierung als Schriftsteller von Beginn an um ein ironisches Spiel, das die hehre Theorie vom Tod des Autors mithilfe eines Lesepublikums konterkariert, das nur darauf wartet, Parallelen zwischen Fiktion und Realität ziehen zu können. Über die Jahre ergeben sich zudem geradezu strategische Inszenierungsmuster, denen Kracht immer treu geblieben ist: In den Interviews gibt er sich unnahbar, eine höfliche Dandy-Distanzierung wird als Mauer hochgezogen, hinter der die wahre Person mit ihren wirklichen Gedanken und Gefühlen verborgen bleibt. Auf Facebook und Instagram postet Kracht dann ganz private Bilder aus seiner Kindheit, seiner Jugend und aus seinen bewegten Jahren als junger Erwachsener. Auf diesen Kanälen liefert er also jene persönlichen Einblicke, die er in den ironisierenden Interviews verweigert. Auch im Social-Media-Bereich bleiben diese Einblicke jedoch schlaglichtartig und ergeben nie ein stimmiges Gesamtbild. Auch hier liegt also mehr Spiel als Ernst vor – ein kritischer Flirt mit dem gesellschaftlichen Streben nach umfassender Authentizität.

Vor 25 Jahren wurde Krachts erster Roman nicht nur zum Bestseller, sondern auch er selbst wurde als Autorfigur zu einem Faszinosum: Wer ist dieser Dandy, der halb Oberschnösel, halb schüchterner Primaner zu sein scheint? In dem Vierteljahrhundert danach hat Kracht, auf dieser Anfangsfaszination aufbauend, sorgsam wie früher als ‚Maler-Darsteller‘ daran gearbeitet, sich selbst als eine Art lebendes Mysterium zu inszenieren. Hierin unterscheidet sich Kracht besonders von anderen namhaften Autor*innen der Gegenwart. Daniel Kehlmann etwa gibt sich stets als selbstreflektierter Poeta doctus zu erkennen, der kulturwissenschaftlich beschlagen ist und über seine eigenen Texte spricht, wie eben nur gestandene Literaturwissenschaftler*innen über Texte sprechen können. Und die bereits erwähnte Juli Zeh zeigt sich verlässlich als die engagierte und kritische Schriftstellerin, die man hinter ihren politisch gefärbten Romanen auch vermutet. Christian Kracht dagegen ist, etwas überspitzt gesagt, immer ein anderer, in jedem Interview, in jedem Social-Media-Post. Dabei korrespondiert sein jeweils aktuelles Kracht-Selbst stets auf subtile, schwer zu beschreibende Weise mit dem jeweils aktuellen Romanprojekt des Autors Kracht.

Und genau an diesem Punkt spielen die Romane und die Autorinszenierung Krachts zusammen, genau hier wird der enigmatische Reiz seiner Texte erklärbar: Jeder neue Kracht-Roman trägt implizit die Verheißung in sich, das ‚Gesamtphänomen Kracht‘ weiter auszuleuchten, Einblicke zu gewähren in ein persönliches Inneres, das man sich irgendwie etwas unaufgeräumt und dunkel, aber doch auch hochinteressant vorstellt. Und gleichzeitig bietet sich die sorgsam inszenierte Autorfigur stets als textexternes Interpretament an, um die interpretatorischen Leerstellen der jeweiligen Romane zu füllen. Der Autor Christian Kracht, das hebt ihn von seinen Schriftstellerkolleg*innen am meisten ab, liefert also Einzelnarrationen – die Romane –, die immer mit einer größeren Gesamtnarration – die medial inszenierte ‚Erzählung‘ seiner selbst – in Verbindung zu stehen scheinen.

Dieses Spiel geht freilich nie ganz auf: Krachts Romane, seine Interviews, seine Facebook-Posts sind wie Puzzleteile, die nicht zusammen passen, die jedenfalls kein fixierbares, festes Bild ergeben. Trotzdem bleibt beim interessierten Beobachter immer eine Resthoffnung, dem Rätsel irgendwann doch in seiner Gesamtheit den Schleier herunterreißen zu können. Der besondere Reiz im Werk von Christian Kracht liegt also in einem beständigen, flackerhaften Oszillieren zwischen dem Autor und seinen Texten; zwischen den fiktionalen und den pseudo-realen Narrationen, die von ihm hervorgebracht werden. Die krachtschen Texte sind dabei ebenso gepflegt wie das krachtsche Äußere, Syntax und Wortwahl ebenso wohlgesetzt wie der noble Seitenscheitel. Angesichts dieser ästhetisch ansprechenden Oberfläche übersieht man dann leicht, dass diese Oberfläche zugleich hart und glatt ist und ein Abtauchen in tiefere Schichten oft unmöglich macht.

Muss diese systematische Autorinszenierung daher nicht auch längst als ernstzunehmender Teil des krachtschen ‚Werks‘ betrachtet werden? Die Literaturwissenschaft tut sich mit einem solchen Zugang sehr schwer, gilt doch die Einbeziehung der Autorperson in die Interpretation von Texten als verpönt (aus eigentlich gut nachvollziehbaren, methodologischen Gründen). Hinzu kommt das Problem um die Frankfurter Poetikvorlesung 2018, in der sich Kracht als jugendliches Opfer von sexuellem Missbrauch zu erkennen gegeben hat.

Auch wenn der faktische Wahrheitsgehalt dieser Enthüllung hier nicht in Zweifel gezogen werden soll, macht sich doch einmal mehr Ratlosigkeit – diesmal eher der beklemmenden Art – breit. Soll das nun des Rätsels Lösung sein? Ist der Missbrauch das Schlüsselinterpretament, durch das sich schließlich alle anderen Puzzleteile zu einem Gesamtbild fügen? Wohl kaum. In Wirklichkeit ändert sich durch dieses Bekenntnis eigentlich nichts Grundlegendes in der Kracht-Rezeption; hier kommt zwar ein Puzzleteil ganz anderer Art hinzu, das vielleicht auch die ein oder andere Stelle in einem Roman ‚erklären‘ kann (wenn man sich fiktionalen Texten denn auf diese Weise nähern will), doch den gesamten Kracht nun aus der Missbrauchsperspektive zu lesen, ist ebenso abzulehnen wie die These von Felix Stephan in der Süddeutschen Zeitung kurz nach der ersten Poetikvorlesung Krachts:

In Frankfurt stellte sich jetzt heraus: Ein Spiel ist es nie gewesen. Der Christian Kracht, der dort am Pult stand, hat noch nie einen ironischen Satz geschrieben. Es ging immer um alles, um den Menschen, den Humanismus.

Nein, ganz im Gegenteil: Nach 25 Jahren liegen inzwischen fünf Romane und mehrere andere Texte Krachts vor, die ausnahms- und vorbehaltlos lesenswert sind; die faszinierendste – weil rätselhafteste – Geschichte erzählt Christian Kracht aber weiterhin über sich selbst.

Der jugendliche Christian Kracht auf dem Cover seines Debuts Faserland:

Faserland

https://www.amazon.de/Faserland-Christian-Kracht/dp/3941711083

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Ein Selfie in Trachtenjacke mit ähnlicher Entstehungszeit wie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten:

Zwei

https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Christian_Kracht.JPG

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Langes, ungekämmtes Haar; mit Erscheinen seines Romans Imperium näherte sich Kracht seiner eigenen Hauptfigur August Engelhardt an:

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https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13866600/Kritiker-schreit-Nazi-Mordio-gegen-Christian-Kracht.html

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Die bislang letzte Metamorphose; Kracht im Kontext der Veröffentlichung von Die Toten:

4

https://www.spiegel.de/fotostrecke/christian-kracht-motive-zu-die-toten-fotostrecke-140895.html