„Ich will meine Bühne mit Menschen bevölkern! Mit Menschen, die uns gleichen, die unsere Sprache sprechen! Ihre Leiden sollen uns rühren und ihre Freuden uns tief bewegen!“ La Roche, der Direktor des Theaters, weiß genau, was er haben will und was nicht. Er erwartet ein Theater der Zukunft, harrt „geduldig des fruchtbaren Neuen“ und hofft auf „die genialischen Werke unserer Zeit“. Werke will er, die „zum Herzen des Volkes sprechen“ und seine „Seele widerspiegeln“. Ein kraftvolles Theater müsste das sein, eines, indem das Publikum sich selbst und seine Nöte gespiegelt findet: mea res agitur. – Merkwürdig, dass die Schöpfer dieser Figur seinem Rat nicht besser gefolgt sind! „Capriccio“ ist von solchen Idealen mindestens so weit entfernt wie Garmisch von Rio de Janeiro. Mit der Lebenswirklichkeit der Menschen von 1942 hat gerade diese Oper denkbar wenig zu tun.
Worum geht es in diesem „Konversationsstück für Musik“, das im Oktober 1942 (die deutsche Armee kam zu dieser Zeit an der Ostfront zum Stehen) im Münchner Nationaltheater uraufgeführt wurde? Die Handlung spielt um 1775 herum auf einem Schloss in der Nähe von Paris, zu der Zeit also, als Gluck sein Reformwerk der Oper begann. Flamand, ein Musiker (Pavol Breslik singt ihn textverständlich und mit kraftvollem Tenor), und Olivier, ein Dichter (Vito Priante mit kernigem Bariton), streiten nicht nur um die Vorherrschaft von Text oder Musik in der Oper, sondern buhlen auch um die Gunst der schönen Gräfin, die von Diana Damrau mit strahlendem Sopran als lebenszugewandte Frau dargestellt wird. Sie kann sich nicht zwischen den beiden entscheiden. Der Bruder (mit sicher geführtem Bariton: Michael Nagy) ist selbst in eine Amoure mit der Schauspielerin Clairon (Tanja Ariane Baumgartner mit zu viel Vibrato und zu wenig Textdeutlichkeit) verstrickt, La Roche, der Theaterdirektor (Kristinn Sigmundsson, darstellerisch stark, aber mit Defiziten in der Artikulation) darf seine Vision einer gelungenen Bühnenkunst darlegen – und nach ziemlich ausführlichen (und nicht selten recht banalen) Expektorationen zum Verhältnis von Wort und Ton kann sich die Gräfin noch immer nicht zwischen den beiden Verehrern entscheiden – und will es auch gar nicht, denn in „eins verbunden sind Worte und Töne – zu einem Neuen verbunden (…). Eine Kunst durch die andere erlöst.“
Vielleicht hätte Hugo von Hofmannsthal es vermocht, diese halb allegorische, spröde Geschichte in Worten zu erzählen, deren poetischer Glanz über die Dürftigkeit der Handlung hinwegträgt. Doch der war längst tot, und Stefan Zweig konnte zwar die Idee zum Stück liefern, durfte aber als Jude nicht mehr bei der eigentlichen Produktion mitwirken, weshalb Joseph Gregor und Clemens Krauss sich der Sache mehr schlecht als recht annahmen. Und so bleibt die überaus feinsinnige Musik von Richard Strauss, der hier einen durchhörbaren, sublimen Spätstil fand. Es dominiert ein leichter Parlando-Ton, aber freilich blühen die Melodien auch in diesem Werk immer wieder schwelgerisch auf. Strauss selbst hat im September 1939 Krauss gegenüber auf den Punkt gebracht, was er sich von diesem neuen Werk erhoffte: „keine Lyrik, keine Poesie, keine Gefühlsduselei“, wollte er, sondern „Verstandestheater, Kopfgrütze, trockenen Witz!“
Diesem Anliegen wird Lothar Koenigs am Pult des Bayerischen Staatsorchesters durchaus gerecht: Er bietet zügige Tempi (auffällig gerade beim einleitenden Streichsextett) und einen durchhörbaren, gut mit den Sängern abgestimmten Orchesterklang. Eigene Akzente setzt er aber kaum. Dabei hätte ein wenig Poesie und Klangsinnlichkeit diesem Abend gewiss nicht geschadet. Ähnlich solide ist die Regie-Arbeit von David Marton, die bereits 2013 an der Opéra National de Lyon gezeigt wurde. Marton verlegt die Handlung in ein Theater zur Zeit der Uraufführung. Gewonnen ist durch diesen „Einfall“ allerdings nicht besonders viel. Gelegentlich scheint der Kontext der 1940er Jahre durch, indem Rassenwahn, Deportation oder Bespitzelung angedeutet werden. Davon abgesehen stehen oder sitzen die Sänger brav auf der Bühne herum, deklamieren ihre dürftigen Textzeilen und erörtern die alte Frage: prima la musica poi le parole? Besonders aufregend ist das nicht. Aber von unserer Wirklichkeit des Juli 2022 auch nicht weiter entfernt als von jener des Oktober 1942. Auf die „genialischen Werke unserer Zeit“ darf weiterhin gewartet werden.