Zwei Opernpremieren sind immerhin bei den diesjährigen Festspielen möglich: Mozarts „Cosi fan tutte“ in einer gut zweistündigen, pausenlosen Fassung und Richard Strauss‘ Einakter „Elektra“. In beiden Fällen spielen die Wiener Philharmoniker. Und weil deren Mitglieder sich Woche für Woche auf eine mögliche Corona-Infektion testen lassen, müssen die Musiker im Graben keine Sicherheitsabstände einhalten – was bei den enormen Dimensionen eines Strauss-Orchesters räumlich denn auch schwer möglich wäre. Was für ein Erlebnis, nach mehreren Monaten der Zwangspause ein solches Orchester zu hören! Die Philharmoniker musizieren mit unbändiger Spielfreude. Lustvoll kosten sie den Klangrausch aus, mit dem Richard Strauss 1909 an der Spitze der Avantgarde stand. Franz Welser-Möst, der gelöster und gleichzeitig expressiver erscheint als noch bei der umjubelten „Salome“ von 2018, zeigt indes bei aller Schroffheit, wie viel lyrisch farbenreicher „Rosenkavalier“-Schmelz schon in der „Elektra“-Partitur angelegt ist. Ihm gelingt eine überzeugende, wenn auch nicht durchweg unter Hochspannung stehende Interpretation. Wenn zum Beispiel Elektra ihre Schwester Chrysothemis verflucht und dann beschließt, das grausige Werk des Muttermordes allein zu vollziehen („Nun denn, allein!“), so könnte man sich die rasenden Läufe, das fieberhafte Raunen aus er Tiefe des Orchesters unheimlicher, packender, atmosphärisch dichter vorstellen. Und wenn wenig später der ersehnte Bruder Orest vor Elektra steht, sie ihn in einem Aufschrei erkennt, der Orchestertumult langsam abebbt und endlich das Orest-Motiv in aller Schönheit aufblüht, so wären wohl organischere Übergänge denkbar.
Dennoch ist diese „Elektra“ eine packendende Aufführung. Das liegt an der phantastischen Leistung der Wiener Philharmoniker, aber nicht minder an der Besetzung der drei zentralen Frauengestalten. Tanja Ariane Baumgartner vermittelt mit dunklem, gerundetem, kraftvollem Mezzo die seelische Pein der Klytämnestra mit großer Eindringlichkeit. Vor allem, wenn sie im Dialog mit Elektra von ihren bösen Träumen und schlimmen Nächten erzählt und Hilfe von ihrer weisen, doch schroff unzugänglichen Tochter erwartet, regt sich Mitleid mit dieser Figur, die in Baumgartners Darstellung eben nicht nur die üble Gattenmörderin, sondern auch eine leidende, gequälte Frau ist. Aušrinė Stundytė, die litauische Sopranistin, die heuer in Salzburg debütiert, gelingt ebenfalls ein differenziertes Portrait der Elektra. Sie changiert charakterlich zwischen Heimtücke, Kälte und Hingabe. So verkörpert Aušrinė Stundytė glaubhaft eine abgründige Figur, wenn ihrer mitunter angestrengt wirkenden Stimme (eben kein wirklich hochdramatischer Sopran) für diese Rolle auch die letzte Durchschlagskraft fehlt und sie darum Mühe hat, den glühenden Hass Elektras zum Ausdruck zu bringen. Tief anrührend ist schließlich das überwältigende Liebesbedürfnis, von dem Asmik Grigorian als Chrysothemis mit leuchtendem, in den Höhen zuweilen etwas scharfem Sopran erzählt: „Ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal.“ Eine junge Frau, erfüllt von Sehnsucht nach Leben, nach Glück, nach ein wenig Normalität in dieser Atriden-Hölle zu Mykene, das ist Elektras Schwester, und Asmik Grigorian ist dank ihres Ausdrucksvermögens und ihrer vor allem in der Mittellage warm flutenden Stimme die glücklichste Besetzung für diese Partie. Aber auch die Nebenrollen (etwa Natalia Tanasii als Fünfte Magd oder Matthäus Schmidlechner als junger Diener) und kleineren Partien waren gut gewählt. So sang Derek Welton einen kraftvollen Orest mit sattem Bass.
Der Regie gelang mit diesem stimmigen Ensemble eine überzeugende, in weiten Teilen stimmige Personenführung. Das hätte für einen großen Abend eigentlich genügt. Doch Regisseur Krzysztof Warlikowski und seine Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak haben die Geschichte ohne ersichtlichen Erkenntniszugewinn arg verrätstelt und symbolisch überladen. Die riesige Bühne der Felsenreitschule ist zweigeteilt. Rechts ein Kubus mit magentaroten Wänden, in dem allerhand Unglück passiert. Teile der Vorgeschichte werden hierin erzählt und per Video auf die poröse Wand der zugemauerten Arkaden projiziert. Links ein einladender Swimmingpool, in dem zunächst ein paar Mägde ihre Füße baden, in den später aber auch die Hauptfiguren hineinwaten. Warum eigentlich ein Pool in Mykene? Weil Agamemnon im Bad erschlagen worden ist? Und wer sind die Kinder, die darin zu Beginn der Handlung plantschen? Jung-Elektra und Jung-Orest? Was sagen die Schaufensterpuppen, die bedeutungsschwer auf der Bühne herumstehen? Warum Kostüme, die von Ferne an die 1950er Jahre erinnern und Chrysothemis wie ein billiges Girlie, Elektra im weißen Kleid mit Blumenborte wie eine sitzengelassene und alt gewordene Tanzstunden-Debütantin aussehen lassen? Warum schiebt sich der Kubus zuletzt dräuend über den Pool?
Fragen über Fragen! Und weil das Nachdenken ohne rechtes Ergebnis bleibt, lässt man die Bühnenrätsel des Künstlerpaares Warlikowski/Szczęśniak alsbald auf sich beruhen. Schließlich wird das Ohr reichlich bedient an diesem Festspielabend. Was für ein Glück, wieder einmal live im Saal dabei zu sein, die Wucht des Klanges körperlich zu erfahren, die Spannung mit den anderen Zuschauern zu teilen. Wie gut, dass Salzburg den Mut hat, das Wagnis der Festspiele 2020 einzugehen. Möge es gelingen und die Kultur auch andernorts aus ihrem künstlichen Koma erwecken.