Etwas kurios ist es schon, wenn man gespannt im Großen Festspielhaus in Salzburg sitzt und einen begrüßt die warme Stimme mit leicht steirischem Einschlag von Nikolaus Bachler, welcher die Besucherinnen und Besucher an die erst einmal wohl dauerhaft geltenden Corona-Schutzmaßnahmen und an das Ausschalten jeglicher elektronischer Geräte erinnert. Bei diesem Publikum ist wohl beides nicht fehl am Platz: Sowohl ältere Herrschaften aller Couleur, welche, den Sprachfetzen zu entnehmen, sich die Mühe gemacht haben, aus ganz Europa an die Salzach zu pilgern, als auch jüngere Gäste nicken sich pflichtbewusst zu und kontrollieren noch einmal das Mobilfunkgerät. Begleitet wird die Ansage von dem warmen Brummen der Kontrabässe und dem seidigen Spiel einer Harfenistin, welche beide bis zum allerletzten Moment vor Vorstellungsbeginn innig proben, auf dass auch jeder feine Übergang sitzen möge. Der so wunderbar und wohl nur im Festspielhaus so perlende Applaus setzt ein, sobald die ersten Musiker die Bühne betreten und ebbt schnell ab, während der Saal angespannt den Großmeister des Abends erwartet. Beim Betreten erhebt sich frenetisch die Euphonie an Applaus und Bravoausrufen, welche den Abend umrahmen soll. Christian Thielemann wird, bevor überhaupt der erste Ton erklungen ist, übergossen mit akustischen Salbungen. Natürlich ist dies, auch wenn die coronabedingt verschobenen Osterfestspiele im Herbst stattfinden und er unter der neuen Leitung keinen allzu sicheren Stand hat, ein Heimspiel für ihn. Man kennt sich schließlich, da nicht nur er und Wagner eine schon fast religiöse Beziehung teilen, sondern auch sein Publikum mit ihm. Doch lässt sich vor allem in diesen Formaten, kleineren Festspielen mit reduzierten Programmen, solch eine qualitative Dichte an Sängerinnen und Sängern vereinen wie an diesem Abend.
Mit Beginn des Vorspiels der „Walküre“ lässt sich erahnen, welche Idee Thielemann vorschwebt: Die Violinen sind ungewohnt dynamisch und hetzen in den aufeinander folgenden Crescendi, die Celli und Kontrabässe bleiben jedoch gezügelt und geben dem abklingenden Sturm dadurch die nötige Schwere. Einige Kollegen Thielemanns neigen an dieser Stelle dazu, die tiefen Streicher zu treiben, wodurch aber der Spannungsbogen des Vorspiels unklar wird. Wagners eigens konzipierte Horntuben schneiden jäh durch den ausgerollten Klangteppich, sodass das musikalisch Skizzierte und aus dem letzten Bild des „Rheingolds“ entliehene Donnermotiv wie selten sonst dem Zuhörer ins Mark fährt. Der Auftakt gelingt unter der straffen und immer wachsamen Hand Thielemanns und setzt Siegmund nicht nur als vom Kampf gehetzten Krieger in Szene, sondern vor allem auch als einen abgeschlagenen Flüchtenden, der hadernd mit dem eigenen Schicksal ziellos umherirrt. Diese mühelose Eleganz zieht sich durch den ersten Aufzug der „Walküre“: Immer ist der Dirigent bei den Musikern, die ihm auf den Atemzug folgen, überlässt das Wenigste dem Zufall und nutzt die Partitur nur zur gelegentlichen Überprüfung seines souveränen Handelns. Die Motive der Wälsungenzwillinge, herausragend gespielt vom ersten Konzertmeister der Violoncelli Norbert Anger, werden vom Solisten fein ausgeleuchtet. Die Übergänge sind sanft ausgestaltet und nie harsch, sondern wohltemperiert. Die Bläser spielen so uniform, dass sich eine geradezu sakrale Qualität herausbildet. Durchgehend beschleicht einen das Gefühl, als würde es Thielemann wahrlich gelingen, die Dresdner zu der Wunderharfe zu machen, welche Wagner in ihnen gesehen hat. Den Sängern legt er durch konzentrierte Interaktion die Silben förmlich in den Mund. Auf der sonst so großen Bühne des Festspielhauses, die auf Klangmassen ausgelegt ist, entwickelt sich ein intimes Wechselspiel zwischen den Sphären, das kaum Wünsche offenlässt.
Stephen Gould, trotz in der Vergangenheit sich häufender Stimmprobleme bei den diffizilsten Wagnerpartien, die er, wie als Tristan in München 2017 unter Simone Young, durch brillante Technik ausgleichen konnte, gelingt die Exklamation zu Beginn hervorragend. Glaubwürdig vermittelt er den abgekämpften Siegmund, der sich erschöpft und entmutigt im fremden Haus niederlässt. Die Winterstürme wirken, so innig wie Gould sie artikuliert, nahezu liedhaft. Im Vergleich zu anderen Tenören dunkelt er in den expressiven Stellen nicht kehlig ab, sondern stemmt sich kraftvoll in die Höhe und geht Wagnisse ein, die andere nicht riskieren würden. So verzeiht man ihm auch die leicht metallenen Klänge im Piano und die stellenweise sehr weiche Aussprache, auch wenn sie die Textverständlichkeit marginal schmälert.
René Pape als viriler und sich bei seinem Auftritt szenisch intelligent durch das Orchester bewegende Hunding besticht mit seiner voluminösen Kraft, die keine Zweifel daran lässt, warum er immer noch ein gern gesehener Gast in allen großen Häusern ist. Eine überzeugende Leistung, die in seinem Metier und in seiner Altersklasse seinesgleichen sucht. Durch die Wucht von Papes Stimme und die tenorale Qualität Goulds ergibt sich der stimmige Kontrast, der die Spannung in das Wortgefecht der beiden bringt.
Die wahre Wonne an diesem Abend bringt Anja Kampe. Mit einer wunderbar samtenen Tiefe und einem bestechenden Spiel setzt sie die einzelnen Stücke aus Wagners Werk, die an diesem Abend geboten werden, in ein Verhältnis, welche dem Publikum die innere Logik offenbart. Zwar liegt ihr die Rolle der Sieglinde mehr als die der Brünnhilde (insbesondere der heikle Auszug aus dem Schlussgesang der Brünnhilde „Starke Scheite schichtet mir dort“), so schafft sie es dennoch, ihre Reputation als eine der Königinnen ihres Faches an diesem Abend zu zementieren. Selten hat der Rezensent solch einer Maßstäbe setzenden Aufführung Wagners beigewohnt, und es ist eine Schande, dass eine Sängerin solchen Kalibers erst jetzt an Häusern wie der Metropolitan Opera in New York debütiert und das auf dem grünen Hügel nach dem Debakel um die Rolle der Isolde 2015 immer noch auf sich warten lässt. Mit dieser Leistung unterstrich sie ihre Stellung als eine der bedeutendsten Sängerinnern unserer Zeit.
Noch deutlicher als zu Beginn entfalten sich die Qualitäten des Kapellmeisters Thielemann im zweiten Teil des Abends: Ihm gelingt es, die Leitmotive bestimmt und klug zu schichten, sodass er die kompositorischen Höhepunkte des gesamten „Rings“ Revue passieren lässt. Es gilt hier jedoch erneut hervorzuheben, mit welcher Präzision das Orchester geleitet wird und dass das Geflecht der Musik einen nahezu symphonischen Fluss ergibt.
In der Summe musiziert Christian Thielemann mit einem Orchester und einem Stab an Sängerinnen und Sängern, die ihm auf Augenhöhe begegnen, sowohl fachlich als auch persönlich. Es wirkt mehr wie ein Abend unter Freunden als ein Festkonzert, verfehlt jedoch keineswegs die Wirkung von letzterem; Sollte Thielmann nach allen Querelen tatsächlich ohne festes Engagement verbleiben, so möge er als wotanscher Wanderer eine Pilgerschaft antreten. Die Musikwelt wird es ihm danken.